Mülheim. In der 95-minütigen Jurysitzung zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Elfriede Jelinek ab. Die Debatte war klug, unterhaltsam und pointiert.

  • Das Stücke-Festival ging am Samstag mit Konstantin Küsperts „Europa verteidigen“ zu Ende
  • Die fünfköpfige Jury diskutierte dann bis gegen Mitternacht und schien zunächst sehr unterschiedlicher Ansicht
  • Auf Anne Lepper (*1978) einigten sie sich aber rasch. Der einzige Mann votierte für Jelinek

Um 23.50 Uhr, nach einer nur 95-minütigen Jury-Sitzung, also in klassicher Spielfilmlänge, war klar: Anne Lepper gewinnt mit „Mädchen in Not“ den mit 15 000 Euro dotierten Dramatikerpreis der 42. Theatertage. Und spannend wie ein Spielfilm war die Jury-Debatte auch, denn das Ergebnis war einhelliger, als zu Beginn an möglich schien. Der österreichische Kritiker Wolfgang Kralicek beharrte zwar bis zum Schluss auf Elfriede Jelinek, hatte aber schon früh seine Sympathie für Leppers Text zu erkennen gegeben.

Dem professionellen Schlagabtausch, den man sich gut als „Das postdramatische Quintett“ auf der Mattscheibe vorstellen könnte, folgten zahlreiche Interessierte gebannt, denn die Juroren diskutierten pointiert, verständlich und nachvollziehbar. Unterhaltsam war es außerdem, was nicht nur an Moderator Michael Laages lag, der in Erinnerung an so manche ausufernden Ausführungen des vergangenen Jahres die Fachleute mit einer klassischen Studiostoppuhr auf fernsehkompatible 1:30 pro Beitrag trimmen wollte. Es gab in diesem Gremium, mit nur einem Quotenmann, so manchen amüsanten Schlagabtausch. Die Favoriten waren zwar breit gefächert, Sympathien und Anerkennung fand jedoch jeder der sieben Autoren, wobei der Abschied von Olga Bach und Clemens Setz am leichtesten fiel.

Ein sprachmächtiges Monument

Die Überraschung hatte sich schon frühzeitig abgezeichnet, denn in der ersten Runde, in dem sich die Juroren traditionell von drei Stücken verabschieden müssen, fiel der Name Lepper als einziger kein einziges Mal. Sogar von Elfriede Jelinek wollte sich Cornelia Fiedler, Sprecherin des Auswahlgremiums, schon als aller erstes trennen. Sie erkannte in „Wut“ nicht die Qualität, die sie von anderen Texten der Nobelpreisträgerin gewohnt sei. „Sonst schießt sie mit ihrer Sprachvirtuosität Pfeile ins menschliche Gehirn, die neue Synapsen aktivieren.“ Und auch Dramaturgin Marion Hirte sah „Wut“ eher zwiespältig. Einwände kamen wie erwartet von Kralicek, der die konsequente Täterperspektive der 70-jährigen lobte, von neuen Tönen und einem „sprachmächtigen Monument der Ohnmacht“ sprach.

Er hatte direkt zu Beginn die größte Kontroverse des Abends ausgelöst, da er sich, vor allem auch aus formalen Gründen, von Milo Raus „Empire“ trennen wollte. Das entsetzte „Ui“, das darauf hin Kathrin Röggla, wie er aus Österreich, entfuhr, erläuterte dien Autorin später wortreich. Der zwar verdichtete, aber reale Erfahrungsbericht der vier Schauspieler, so Kralicek, lasse sich nicht nachspielen. Die größte Leistung habe darin bestanden, bei einem Casting vier Darsteller mit diesen bemerkenswerten Schicksalen zu finden, was für Röggla freilich eine maßlose Unterschätzung darstellt. Fiedler, die selbst mit ihrem Favoriten Konstantion Küspert scheiterte, pflichtete Kralicek bei. „Wir haben uns an der Authentizität bei Rau berauscht“, sagte sie und monierte, dass hier das letzte Gespräch mit dem sterbenden Vater und der Besuch an dessen Grab eingespielt werde, was schon eine kalkulierte Erschütterungsstrategie sei. Außerdem vermisse sie bei der Dialogfülle eine Auseinandersetzung zwischen den Charakteren.

Von der Anti.Nora zum Ego-Monster

Und Leppers Stärken? Die Überraschende Wendeder Story: Es beginne märchenhaft als Anti-Nora, von einer die auszieht, um sich selbst zu verwirklichen, gegen gesellschaftliche Muster aufbegehre und schließlich zur monströsen Ego-Monster werde, die selbst mordet und in die Gemeinschaft aufgenommen werde, gegen die sie anfangs opponierte. Lepper (*1978), die bereits mit „Käthe Hermann“ 2012 zu den Stücken eingeladen war, trumpfe mit vielen Verweisen von Ibsen über Kafka bis Adorno auf. Für Röggla ist das ein Text, der lange nachwirkt und immer stärker werde. „Europa verteidigen“ von Konstantin Küspert, mit dem das Festival endete, kam in der Diskussion fast zu kurz. Röggla sah in diesem Plädoyer Agitprop-Theater, das „offene Türen einrennt.“ Das sah das Publikum anders und sprach dem anwesenden Autor und dem jubelnden Ensemble aus Bamberg den undotierten Publikumspreis zu (Note:1,6). In der Publikumsgunst folgten ihm dicht auf den Fersen Milo Rau (1,66) und Elfriede Jelinek (2,04). „Natürlich ist es auch gut, wenn Kritiker das Stück gut finden, aber ich schreibe für das Publikum. Deshalb freut mich der Publikumspreis ganz besonders. Das zeigt mir, dass das Stück funktioniert“, sagte der 35-Jährige im Gespräch. Im Spielzeitheft hatte das Bamberger Theater die Einladung nach Mülheim bereits als Höhepunkt der Saison beschrieben. Das zeigt auch den Stellenwert dieses Festivals.

>>> DIE PREISVERLEIHUNG

Die Preisverleihung für Anne Lepper, Konstantin Küspert und Tina Müller, die Preisträgerin der Kinderstücke, ist in einer Matinee am Sonntag, 18. Juni, vorgesehen. Näheres wird noch bekannt gegeben.

Die 13 Vorstellungen und das Rahmenprogramm wurden von rund 2500 Zuschauern besucht. Die Jurydebatte im Netz verfolgten rund 7000 Zuschauer in Deutschland und auf der gesamten Welt, wo sich vor allem auch Übersetzer einschalten