Mülheim. Schon vor dem Putschversuch versuchte Erdoğan, die Theater an die Leine zu nehmen. Am Raffelberg läuft die türkische Version der „Lächerlichen Finsternis“

  • Wie ist die Situation nach dem Putschversuch an den türkischen Theatern
  • Rolf Hemke, Programmmacher von Szene Istanbul am Theater an der Ruhr, spürt große Zurückhaltung
  • Erdoğan versucht, die freie Szene zu marginalisieren. Kritisches Theater ist in der Nische möglich

Nach dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli wurden über 13.000 Menschen inhaftiert, 75.000 Menschen die Reisepässe entzogen, um sie an der Flucht ins Ausland zu hindern. 60.000 Staatsbedienstete wurden vom Dienst suspendiert, unter anderem 15.000 Lehrer und knapp 3000 Richter. Weiteren 21.000 Pädagogen, die an freien Schulen tätig sind, wurde die Lizenz entzogen, denn die Gülen-Bewegung rekrutiert ihre Anhänger vor allem über Bildungseinrichtungen. Knapp 100 Journalisten werden laut Spiegel per Haftbefehl gesucht. Von Theaterschließungen oder Repressionen gegen Schauspieler hört man dagegen derzeit nichts.

„Das liegt zunächst daran, dass auch die Theater in der Türkei Sommerpause haben“, sagt Rolf Hemke, der am Theater an der Ruhr seit 2007 die internationalen Reihen verantwortet. Dazu zählt auch „Szene Istanbul“, die demnächst in die fünfte Runde geht und sich bei der türkischen Community großer Beliebtheit erfreut. In Istanbul war der 44-Jährige zuletzt im Mai, um beim dortigen Theaterfestival zu sichten, welche Produktionen er an den Raffelberg einladen könnte. Voller Sorge hält er auch den Kontakt zu mehreren Theaterleuten. „Ich spüre da eine große Verunsicherung, Vorsicht und Zurückhaltung – auch mir gegenüber“, erzählt er. Er stellt auch fest, dass die Theaterleute nicht mehr so locker Witze machen und über die Situation schimpfen, teilweise auch ängstlich wirken. Dass Theater geschlossen werden, glaubt er allerdings nicht, würde aber auch keine größeren Repressionen gegen sich exponierenden Einzelpersonen ausschließen.

„Es sind der Offizier und der Lehrer, die den modernen laizistischen türkischen Staat verkörpern“, nennt er eine traditionelle Redensart, die auch das Handeln nach dem Putschversuch bestimmte. Aber der Druck wird auch auf andere Bereiche größer. Er befürchtet eine zunehmende Selbstzensur der Theaterleute. Von einem konkreten Fall weiß er. So wurde auf dem Festival die Dramatisierung des Romans „Der Bastard von Istanbul“ drei Mal erfolgreich präsentiert, in den regulären Spielbetrieb wurde das Stück aber nicht wie vereinbart aufgenommen. Eine staatliche Intervention hatte aber nicht stattgefunden.

In Zukunft gespalteneres Publikum?

Der Druck hat aber nicht erst mit dem Putschversuch zugenommen. Es ist eine Eskalation, die schon viel früher begonnen hat. „Der Putschversuch hat hier wie ein Katalysator gewirkt“, sagt Hemke. Schon vor Jahren hatte Erdoğan versucht, die staatlichen Bühnen zu privatisieren und der freien Szene das Wasser abzugraben. Wer Subventionen will, muss sich anpassen und wird kontrolliert.

„Wenn wir die Theater privatisieren, dann können sie spielen, was sie wollen“, zitierte die Welt vor zwei Jahren Erdoğan. „Entschuldigung, aber Schauspieler können nicht ihr Gehalt von der Gemeinde beziehen und gleichzeitig die Verwaltung kritisieren.“ Außerdem hatte er beklagt, Schauspieler würden den konservativen Teil der Gesellschaft verunglimpfen. Stücke müssten den sittlichen Prinzipien entsprechen. Das beginnt bei Äußerlichkeiten.

Dass es der freien Szene dennoch immer wieder gelang, gesellschaftliche Probleme, etwa über Kurden, zu thematisieren, war in der vergangenen Spielzeit bei den Gastspielen am Raffelberg zu sehen. Die erstaunte Frage, ob das auch so in der Türkei gespielt werde, hörte man immer wieder. Aber die Begeisterung beim Publikum war nicht so einhellig. Im Publikum saßen auch, allerdings in der Minderheit, Anhänger von Erdoğan. Ihr Missfallen flackerte gelegentlich auf. Hemke geht davon aus, dass sich das Publikum künftig noch stärker polarisieren wird.

Eine Sonderstellung hat das städtische Theater Bakirköy (BBT), das vor 25 Jahren gegründet wurde und subventioniert wird. Es liegt in einem Arbeiter-Vorort, deren Verwaltung von einer oppositionellen Partei geführt wird, so dass das BBT in einer geschützten Nische existiert. „Es kann seine Stücke und Projekte ohne irgendwelche äußeren Zensurmechanismen auswühlen und eigene Risiken eingehen, darüber hinaus zielt es auf Vernetzung und Kooperationsmöglichkeiten mit lokalen und internationalen Theatern“, schrieb die türkische Dramaturgin Dilek Altuntas in der Juli-Ausgabe von Theater heute und skizzierte die Situation der Gesellschaft und der Theater vor dem Putsch.

Von Berlin nach Istanbul

Herausragende Produktion dort ist „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz, die der Regisseur Nurkan Erpulat auf die türkischen Verhältnisse adaptiert hat. Autor, Stück und Regisseur sind dem Mülheimer Publikum vor allem durch das Stücke-Festival vertraut. Die Wiener Uraufaufführung mit einem fulminanten Frauen-Quartett war im vergangenen Jahr in Mülheim zu sehen. Erpulat, 1974 in Ankara geboren, ist am Gorki in Berlin Hausregisseur, und hat gemeinsam mit dessen heutigen Co-Intendanten Jens Hillje 2011 mit „Verrücktes Blut“ Furore gemacht, wurde zum Stücke-Festival eingeladen und mit dem Publikumspreis bedacht. Anschließend inszenierte er auch am Düsseldorfer Schauspielhaus und ist derzeit Stipendiat der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Die Lächerliche Finsternis von Lotz, der dafür zum Autor des Jahres gekürt wurde, thematisiert den Kolonialismus. Es ist die Geschichte derer, die in guter Absicht den Unterentwickelten die Zivilisation bringen wollen und dabei selbst zu Barbaren werden. „Indem Erpulat Figuren und deren Handlungen entsprechend der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung umwandelt, gelingt es ihm, sich mit der türkischen Gegenwart und der eigenen Kolonialgeschichte kritisch auseinanderzusetzen“, schreibt Altuntas. Was bei Lotz Afghanistan ist, wird bei Erpulat Südostanatolien. Auch Musik spielt eine Rolle, so erklingt etwa Pearl Jams „Do The Evolution“ von 1988. In der Türkei gab es für „Gülünç Karanlink“ keine offzielle Premiere, keine überregionale Presseeinladung. Das Stück war plötzlich auf dem Spielplan. Die Inszenierung ist am 23. Oktober (18 Uhr) am Theater an der Ruhr zu sehen. An der anschließenden Diskussion nimmt auch der Autor Wolfram Lotz teil.