Berlin. Militär, Polizei, Presse, Schulen – Präsident Erdogan reagiert mit Entlassungen und Verhaftungen auf den Putschversuch. Ein Überblick.
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kehrt nach dem gescheiterten Militärputsch gegen ihn mit eisernem Besen. Kaum ein wichtiger Bereich der Gesellschaft, in dem es nicht zu den von Erdogan angekündigten „Säuberungen“ käme. Insgesamt wurden mehr als 60.000 Soldaten, Beamte, Lehrer und andere Staatsbedienstete entlassen, versetzt oder festgenommen. Es gilt ein dreimonatiger Ausnahmezustand.
• So ist die Lage. Militärs werden verhaftet, Verwaltungsangestellte kaltgestellt, Journalisten mundtot gemacht. Insgesamt wurden bisher rund 16.000 Menschen festgenommen. Laut Innenminister Efkan Ala erließ die Justiz gegen 8113 von ihnen Haftbefehl. Sie befänden sich in Untersuchungshaft. Etwa 3000 weitere Festgenommene seien nach einem Verhör wieder frei gelassen worden. Die restlichen mehr als 4700 Festgenommenen befinden sich demnach im Gewahrsam der Sicherheitskräfte, wo sie während des Ausnahmezustands bis zu 30 Tage festgehalten werden können, bevor sie einem Haftrichter vorgeführt werden müssen. Hier die bisherigen Maßnahmen der türkischen Regierung in den wichtigsten Bereichen.
• Militär. Die Armee, aus deren Reihen der Putschversuch vom 15. Juli gesteuert wurde, spürte als erste die drastischen Reaktionen der Regierung in Ankara. Kaum ein Tag seit dem gescheiterten Umsturz, an dem keine neuen Festnahmen oder Entlassungen bekannt werden. Zuletzt am Dienstag. Vor einer Sitzung des Obersten Militärrats an diesem Donnerstag in Ankara wurden 1600 Offiziere gefeuert, unter ihnen 149 Generäle. Das ist fast jeder zweite der insgesamt rund 350 Generäle und Admirale, die bisher in der türkischen Armee Dienst taten. Seit dem Putschversuch hat die türkische Polizei nach offiziellen Angaben des Innenministeriums insgesamt 5200 Militärangehörige inhaftiert. Zudem wurden mehr als 5000 Polizeibedienstete entlassen.
• Justiz. Nach Angaben von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wurde seit dem Putschversuch Haftbefehl gegen mehr als 1500 Richter oder Staatsanwälte erlassen. 2101 Richter und Staatsanwälte wurden festgenommen.
• Presse. Schon vor dem Putschversuch war die türkische Regierung mehrfach gegen regierungskritische Medien vorgegangen. Am Mittwoch holte Ankara dann zum großen Schlag gegen unliebsame Journalisten aus: Insgesamt wurde die Schließung von drei Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehsendern, 23 Radio-Stationen und 45 Zeitungen angeordnet, meldete die staatliche Agentur Anadolu. Unter ihnen sollen sich sowohl landesweite als auch lokale Medien befinden. Zudem ordnete ein Staatsanwalt am Mittwoch an, 47 ehemalige Mitarbeiter der Tageszeitung „Zaman“ in Gewahrsam zu nehmen. Die Zeitung, eine der auflagenstärksten in der Türkei, war bereits im März wegen angeblicher Verbindungen zum Netzwerk des Predigers Fetullah Gülen im März unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden. Erdogan macht Gülen, der in den USA lebt, für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich.
Zuvor hatte die Istanbuler Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 42 Journalisten ausgestellt. Unter den gesuchten Journalisten ist die prominente Regierungskritikerin Nazli Ilicak. Ilicak war Ende 2013 von der regierungsnahen Zeitung „Sabah“ gefeuert worden, nachdem sie in der damals aufgekommenen Korruptionsaffäre die Entlassung mehrerer Minister forderte.
• Schulen und Universitäten. Präsident Erdogan verfügte per Dekret die Schließung von mehr als 1000 Schulen mit mutmaßlichen Verbindungen zu Gülen verfügt. Außerdem wurde 21.000 Lehrern an Privatschulen die Lizenz entzogen. Neben den Privatschulen sollen 1229 Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen, 19 Gewerkschaften, 15 Universitäten und 35 medizinische Einrichtungen geschlossen werden. Der Vorwurf ist auch hier stets der gleiche: Verbindungen zum Gülen-Netzwerk. Der türkische Hochschulrat untersagte zudem allen Universitätslehrkräften und Wissenschaftlern Dienstreisen ins Ausland. Mehreren tausend Uni-Bediensteten wurden die Reisepässe entzogen.
• Religion. Die türkische Religionsbehörde entließ Anfang der Woche 1112 Mitarbeiter wegen des Verdachts der Unterstützung der Putschisten. Darunter seien Prediger und Koran-Lehrer, hatte die Behörde am Dienstag mitgeteilt. Auch hier steht der Verdacht, sie seien Gefolgsleute Gülens, im Vordergrund.
• Staatsbetriebe. Die „Säuberungswelle“ der Regierung hat inzwischen auch Beschäftigte von Staatsunternehmen erfasst: Die Fluggesellschaft Turkish Airlines hat mehr als 200 Mitarbeiter entlassen. Der Telekommunikationskonzern Türk Telekom teilte mit, 198 Mitarbeitende seien „in Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften“ entlassen worden.
• Finanzbranche. Die türkische Finanzaufsicht entzog dem Chefanalysten von AK Investment, Mert Ülker, die Lizenz. Grund sei ein Marktbericht Ülkers, in dem er seine Pflichten nicht erfüllt habe. Ülker stehe unter anderem eine Klage wegen Beleidigung des Präsidenten bevor. Ülker hatte geschrieben, es gebe Spekulationen, dass der Putsch inszeniert worden sei, um Erdogan die Möglichkeit zu geben, gegen Gegner im Militär vorzugehen. AK Investment ist eines der größten Börsenmakler-Unternehmen der Türkei. (W.B./mit dpa und rtr)