Mülheim. . Bischof Franz-Josef Overbeck fordert angesichts der Bedrohungen einen kritischen religiösen, gesellschaftspolitischen Diskurs. Rund 500 Vertreter aus Kirche, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Medizin und Verwaltung waren erschienen.
Der Bischof spricht allen aus der Seele, die an diesem Abend zum Jahresempfang des Bistums in „Die Wolfsburg“ gekommen sind: „Wir stehen betroffen vor den Bildern der Fratze eines kriminellen Terrors, der nicht mehr nur global operiert, sondern direkt bei uns vor Ort zuschlägt, der sich dabei in perfider Weise auf Religion beruft, großes menschliches Leid verursacht und Spaltpilze in die Gesellschaften eintragen will.“ Rund 500 Vertreter aus Kirche, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Medizin und Verwaltung waren erschienen.
Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck tat an diesem Abend auch das, was er in diesen Zeiten immer tut, wo er auftritt, er wirbt für muslimische Mitbürger: „Sie sind in ihrer übergroßen Mehrheit genauso wie wir, genauso säkular, genauso fromm, genauso rechtstreu, kinderlieb und wohlstandsorientiert, sie achten und stützen die Strukturen unseres freiheitlichen Gemeinwesens, sind verlässliche Kollegen und ein Gewinn für die Zukunftsfestigkeit unseres Wohlfahrtsstaates. Wir gehören mit ihnen und vielen anderen zusammen.“ Der Saal klatscht Beifall für diese Worte.
Differenzierter Blick über den Tellerrand nötig
Die wahren Gründe für Fundamentalismus und Extremismus liegen für den Bischof in sozialer Ausgrenzung, Chancenlosigkeit in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt, in Perspektivlosigkeit. Religiöse Bezüge sind für ihn nur vorgeschoben. „Neid und Missgunst, Angst vor Überfremdung und dem Anderen, Freund-Feind-Denken und Abschottungsgelüste entstehen dort“, so Overbeck, „wo Entwicklungspotenzial im Bereich des Sozialen, der Bildung und des wirtschaftlichen Aufstiegs nicht realisiert werden können.“
Um das alles zu verstehen, sei ein differenzierter Blick über den Tellerrand hinaus nötig. Kirche könne dazu beitragen. Der Bischof nennt die Schulen, die Gemeinden, aber auch die „Wolfsburg“ als Orte für einen kritischen religiösen, gesellschaftspolitischen, kulturellen Diskurs. Er warnt zugleich davor, sich angesichts der Debatten über sich religiös gebende Extremismen und Totalitarismen ins Private abdrängen zu lassen. Overbeck wirbt auch an diesem Abend für eine offene Kirche in einer offenen Gesellschaft. Für ihn gehört dazu die Gastfreundschaft und Hilfe für Asylsuchende. „Das Boot ist noch längst nicht voll.“ Erfreut berichtet er über die neue Arbeitsgruppe des Bistums und der Caritas: „Neuzuwanderung und Flüchtlinge“.
Stärke der Region lebt von Solidarität
Das Ruhrgebiet, betonte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, ist durch Zuwanderung stark geworden. Für sie ist es eine Stärke, die von Solidarität lebt.
Der gewaltige Strukturwandel in der Region wäre ohne die gelebte Solidarität nicht möglich gewesen, betonte sie und warb für die Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen. Wie in früheren Jahrzehnten gelte es auch heute, die Potenziale der Zuwanderer zu erkennen und zu nutzen, ohne die Probleme zu verschweigen. Damit dies zum Erfolg führt, sei Bildung wichtig. Das Leitmotiv „Kein Kind zurück lassen“ gelte für alle, sagte Kraft. Dass 20 Prozent der Jugendlichen ohne Abschluss die Schule verlassen, ist aus ihrer Sicht nicht tragbar. Allen eine gute Perspektive zu geben, gehöre auch zur Solidarität.
„Wir brauchen Bürger, die in christlicher Nächstenliebe unterwegs sind“, appellierte Kraft. Nachhaltigkeit und Fairness nannte sie als weitere wichtige Werte für die Gestaltung der Zukunft. „Diese Region hat die Chance, auf der Grundlage alter Werte die Zukunft zu gestalten und zu meistern.“
Auf der Suche nach Antworten
Beharrliches, kräftiges Fragen, das Verstehen anderer Positionen, die andere Seite mitdenken – für die katholische Akademie „Die Wolfsburg“ ist das der Weg zu Antworten. „Die Antwort nicht gleich kennen, aber durch Fragen in sie hineinwachsen“, nennt Akademie-Direktor Dr. Michael Schlagheck als Weg, den die Einrichtung in Speldorf seit vielen Jahren beschreitet, um den großen Zeitfragen näher zu kommen.
Auf die Suche begeben sich immer mehr Menschen. Fast 30 000 Gäste zählte die Bildungsakademie im vergangenen Jahr, 2000 mehr als im Vorjahr. Über 200 eigene Akademieprojekte wurden durchgeführt. Für das laufende Jahr startet „Die Wolfsburg“ neue Projekte, darunter eine Tagungsreihe mit dem Initiativkreis Ruhr zur „Zukunftsstrategie Ruhrgebiet“.
Seit vielen Jahren stehen mit der Migration verbundene Fragen im Mittelpunkt der Akademiearbeit. „Die in diesem Zusammenhang profilierte interreligiöse Arbeit ist uns angesichts der derzeitigen Debatten besonders wichtig“, sagt Schlagheck. Mit dem Bischof werden die Dialoge fortgesetzt, dabei geht es um Familienwirklichkeiten. Stark nachgefragt ist das Projekt zur christlichen Identität katholischer Krankenhäuser, bei dem „Die Wolfsburg“ Antworten finden will zur Frage: Was muss ein Krankenhaus im 21. Jahrhundert sein – außer Medizinbetrieb?