Crange. Anne und Tobias Bolsmann gehen beide ihr Leben lang auf Crange. Lesen Sie zwei persönliche Erfahrungsberichte zur Kirmes aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.
Tobias Bolsmann
Das ist einfach blindes Verständnis – nur Wanne-Eickelern angeboren, für Zugereiste nicht erlernbar: Schon als ich Mitte Juni einen alten Bekannten beim Einkaufen traf, gingen wir nach kurzer Plauderei mit den Worten auseinander: „Wir sehen uns ja die Tage.” Dazu nickten wir beide wissend. Es hat beinahe etwas von einem physikalischen Gesetz, dass wir uns auf der Kirmes beim Bierstand unseres Vertrauens über den Weg laufen werden.
Ich glaube, ich befinde mich in bester Cranger Gesellschaft, wenn ich gestehe, dass sich meine Vorfreude auf die Kirmes im Laufe von 44 Lebenjahren gewandelt hat. Habe ich früher sofort geschaut, welchen Rabatt ich für zehn Fahrten im Autoscooter bekomme, so hat sich in den vergangenen Jahren der Blick ein wenig – na sagen wir: verengt. Auf den Bierstand. Je nach Bierkonsum kann der sich aber auch zum Karussell entwickeln. . .
Was nicht heißt, dass ich nicht wenigstens auf dem Weg dorthin – noch – einen geschärften Blick habe. Ich werde meiner Ehefrau verraten, dass das kleine Fähnchen am Stand mit den Churros seit einem gefühlten Jahrzehnt das spanische Gebäck als „neu” anpreist, ich werde über den Aufstieg und Fall des Blumenhauses Bauer referieren, ich werde ihr mitteilen (vielleicht hab' ich es sogar schon getan), dass der „Happy Sailor” schon seit jenen Zeiten an genau dieser Ecke steht, als es an den Losbuden Paulchen Panther als Hauptgewinn gab. Alles sachdienliche Hinweise – die meine Liebste wohl in die Kategorie „unnützes Wissen” einordnet.
Na, immerhin habe ich mal mit ihr gesprochen. Ich kann nämlich für nichts mehr garantieren, haben wir die mobile Schankwirtschaft erstmal erreicht. Das Problem lässt sich so beschreiben: Ich habe mal für die Strecke zur Toilette und zurück eine Stunde benötigt, so viele alte Bekannte habe ich getroffen. Da kann man sich als Crange-Fremder selbst unter tausenden Menschen sehr allein vorkommen.
Als Zugeständnis an meine Liebste nehme ich an einem echten Rundgang teil, Fahrt im Riesenrad inklusive. Von dort oben hat man einen tollen Blick auf den Bierstand. . .
Anne Bolsmann
Ich liebe die Kirmes – die vielen bunten Lichter, den Duft von gebrannten Mandeln und Poffertjes in der Luft, das Riesenrad, die Losbuden, die Wildwasserbahn und den Autoscooter: Vor allem die Cranger Kirmes hatte es mir schon als Kind angetan. Jedes Jahr bin ich mit meinen Eltern und Geschwistern mit Bus und Bahn aus Bochum angereist, um ausgedehnte Kirmesbummel zu machen.
Mindestens zweimal sind wir dann über den Platz geschlendert. Beim ersten Mal, um alle Fahrgeschäfte zu sehen. Beim zweiten Mal, um die besten davon auszuprobieren und zwischendurch Bratwurst, Kokosscheiben und Zuckerwatte zu essen. Spätabends ging es im überfüllten Bus zurück nach Hause. So war das Erlebnis Cranger Kirmes für mich, bis ich 2004 meinen Mann kennenlernte. Als er mich ein Jahr später zum ersten Mal mit auf „seine” Kirmes nahm, lernte ich Crange von einer ganz anderen Seite kennen. Schon vor dem Cranger Tor bogen wir in einen dunklen Hinterhof ab, und dort gab es – am Bierstand – das erste große Hallo. Hier kannte wirklich jeder jeden. Und ich so wirklich niemanden. Ich weiß nicht, wie viele Hände ich an diesem Abend geschüttelt habe und wie viele Kaltgetränke ich gereicht bekam. Und als mir die Beine schwer wurden, da zog mein Mann mich weiter ins Herz von Crange: zum Steinmeister. Mitternacht war da längst vorbei, der Boden klebte, und es war so eng und so voll, dass ich mich kaum bewegen konnte.
Jeder Gang zur Theke dauerte mindestens eine Viertelstunde. Ich erinnere mich an die laute Disco-Musik, die Unterhaltungen fast unmöglich machte. Und an die Ortsschilder in dieser kleinen (Bier-)Zeltstadt. Und daran, dass jeder versuchte, dorthin zu gelangen, wo „sein” Ort angeschlagen war. Schnell merkte ich: Der Gang zur Kirmes ist für Eingeborene wie ein großes Klassentreffen. Man kennt sich. Und man weiß: Spätestens bei der Kirmes, da sieht man sich. Jeden Abend. Da bedarf es gar nicht vieler Worte und gezielter Verabredungen. Mich fasziniert dieses stille Abkommen bis heute. Aber ein bisschen vermisse ich auch das Crange, wie ich es früher kannte: Fernab von den Bierständen, inmitten einer Traumwelt aus blinkenden Lichtern und unglaublichen Achterbahnfahrten. . .