Herne. Unter dem Motto „Viel Geschichte. Unsere Zukunft.“ feiert die Stadt Herne ihr 125-jähriges Jubiläum. Ein Blick zurück auf die Stadtgeschichte.

Der Ursprung liegt in versunkenen Wäldern, in Millionen von Jahren abgedeckt durch Ton-, Sand- und Gesteinsschichten. Druck und Hitze entwässerten die eingeschlossenen Pflanzen und es entstand Steinkohle. Die Industrialisierung mit ihrer rasant wachsenden Eisen- und Stahlindustrie brauchte Energie. Menschen trieben Schächte durch den Mergel, stiegen herab in die Nacht und legten sich krumm, um das Grubengold zu Tage zu fördern. Der Ire William Thomas Mulvany setzte im Februar 1857 auf dem Grubenfeld „Shamrock“ den ersten Spatenstich für den Schachtbau auf Herner Gebiet. Alles, was dann kam, Schienen und Straßen, Fördertürmer und Fabriken, Menschen und Siedlungen, Schulen und Krankenhäuser hatte darin seinen Ursprung. Kohle schuf die Stadt, in der wir heute leben.

Historisch gesehen war Herne ein „Straßendorf“. Die zentrale Achse führte vom 1847 eröffneten Bahnhof zum alten Kirchdorf um die einstige Dionysius-Kirche – dem heutigen Europaplatz. Rund um die neu abgeteuften Zechen entstanden eine Reihe von Trabantensiedlungen, die sich zum Teil an kleinere Dorfkerne anlehnten: Baukau, Börnig, Holthausen, Horsthausen und Sodingen. Neben den Bewahrern der bäuerlichen Vergangenheit dominierte dort die rußgeschwärzte Welt der Kohlenberge und Schlackenhalden. Arbeiter und ihre Familien wurden in nüchternen Wohnhäusern und Kolonien direkt an Gruben und Fabriken angesiedelt. Manchmal sprang auch für sie das kleine Glück dabei heraus: ein Häuschen, ein Stall, eine Ziege, ein Garten.

Hernes ungeliebtes Attribut: „Polnische Hauptstadt Westfalens“

Die Belegschaft des Reviers I der Zeche Julia im Jahr 1897. Die Gruppierung der Arbeiter verrät die Hierarchie auf der Zeche: Im Vordergrund halten die Berginvaliden das Schild, im Zentrum dahinter haben sich die Steiger positioniert. Sie werden umgeben von den Hauern, die mit ihrem Gezähe und ihrem Geleucht posieren. Die Gedingeschlepper, Knappen und Berglehrlinge vervollständigen das Mannschaftsbild.
Die Belegschaft des Reviers I der Zeche Julia im Jahr 1897. Die Gruppierung der Arbeiter verrät die Hierarchie auf der Zeche: Im Vordergrund halten die Berginvaliden das Schild, im Zentrum dahinter haben sich die Steiger positioniert. Sie werden umgeben von den Hauern, die mit ihrem Gezähe und ihrem Geleucht posieren. Die Gedingeschlepper, Knappen und Berglehrlinge vervollständigen das Mannschaftsbild. © Bildarchiv der Stadt Herne

Der Bergbau benötigte unzählige Arbeitskräfte und die Bevölkerungszahlen explodierten. Ab 1880 boomte die Fernwanderung aus den Ostprovinzen. Die Arbeitsmigranten waren preußische Staatsbürger, sprachlich und kulturell aber polnisch geprägt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Ruhrpolen waren oft miserabel, die Beziehungen zu den deutschsprachigen Arbeitern durch die fehlenden Sprachkenntnisse und mentalen Barrieren erschwert. Die sozialen Probleme entluden sich im Sommer 1899 in der „Herner Polenrevolte“, die erst durch den Einsatz des Militärs gestoppt werden konnte. Gesellschaftlich entstand ein eigenständiges ruhrpolnisches Milieu mit Zeitungen, Banken und Vereinen. Herne erhielt das ungeliebte Attribut: „Polnische Hauptstadt Westfalens“.

Erster Bürgermeister der Stadt: Hermann Schaefer.
Erster Bürgermeister der Stadt: Hermann Schaefer. © Stadtarchiv Herne

Am 1. April 1897 wurde das Industriedorf Herne zur Stadt erhoben, auch wenn fast alle Straßen noch ungepflastert waren. Insbesondere Hermann Schaefer hatte als Beamter der preußischen Kommunalverwaltung die Entwicklung der Gemeindeangelegenheiten gegen den Widerstand der alteingesessenen Landwirte vorangetrieben. Der überfällige Ausbau der städtischen Verwaltung wurde in Angriff genommen, die Versorgungsnetze von Wasser, Strom und Gas ausgebaut. Schaefer, nunmehr erster Bürgermeister der Stadt, förderte die Ansiedlung der Eisenindustrie. Durch geschicktes Antichambrieren gelang es ihm, die „Maschinen-Fabrik H. Flottmann & Co.“ von Bochum nach Herne zu lotsen. Auf der menschenleeren Vöde im Herner Süden entstanden ab 1902 die Flottmann-Werke, die zum Kern eines neuen Stadtteils wurden. Mit der Eingemeindung von Baukau und Horsthausen am 1. April 1908 verdoppelte sich das Stadtgebiet. Auch wenn Hermann Schaefer zu diesem Zeitpunkt schon seit sechs Monaten im Ruhestand war, zählt diese Gebietsvergrößerung zu seinen Verdiensten.

„Stadt der Kolonien“ blieb zerschnitten

Eine Mietskaserne auf der früheren Bleckstraße (heute Lützowstraße). Trotz des intensiven Wohnungsbaus führte die hohe Zuwanderung jahrzehntelang zu Wohnungsmangel. Um 1914 waren etwa ein Viertel der Bergleute Schlaf- oder Kostgänger, die häufig den Arbeitsplatz wechselten.
Eine Mietskaserne auf der früheren Bleckstraße (heute Lützowstraße). Trotz des intensiven Wohnungsbaus führte die hohe Zuwanderung jahrzehntelang zu Wohnungsmangel. Um 1914 waren etwa ein Viertel der Bergleute Schlaf- oder Kostgänger, die häufig den Arbeitsplatz wechselten. © Archiv Heimatmuseum Unser Fritz

Der bürgerliche Stolz der Gründerzeit lag im Zentrum der Stadt. Entlang der Bahnhofstraße entstand eine Reihe repräsentativer Wohnhäuser und öffentlicher Bauten mit prächtig verzierten Fassaden, die im Volksmund schnell als „Emscherbarock“ bespöttelt wurden. Im Jahr 1911 schrieb der Schriftsteller Aurel von Jüchen: „Für den Herner Bürger ist die Bahnhofstraße das zweitgrößte Wort, es kommt gleich nach dem Wort ‚Kohlenzechen‘. Es herrscht denn auch auf diesem Broadway von Herne zu jeder Tageszeit ein Leben wie in einer richtigen Großstadt.“

Trotz aller Erfolge rannten Kommunalpolitik und Verwaltung mit ihrem Willen zur koordinierten Urbanisierung immer dem Wildwuchs der Tiefbauzechen mit ihrer chaotischen Gemengelage aus Industriebauten, Verkehrswegen, Halden, Brachen und Arbeitersiedlungen hinterher. Auch wenn Herne sich 1928 mit der Eingemeindung von Sodingen, Holthausen und Börnig noch einmal territorial vergrößerte, blieb die „Stadt der Kolonien“ zwangsläufig disparat und wurde durch mächtige Verkehrslinien zerschnitten.

Das Image des Bergarbeiterkaffs nagte am Selbstwertgefühl der städtischen Repräsentanten. Man war halt nicht Thyssen, Krupp oder Hoesch, kein Gigant an der Ruhr, keine Metropole, sondern nur kohlenschwarzer Durchschnitt. Schon 1927 räumte Oberbürgermeister Kurt Täger ein: „Mitten im Kohlenrevier zwischen Ruhr und Emscher gelegen, in einer Gegend, die durch die Entwicklung der Kohlen- und Eisenindustrie an Naturschönheit viel eingebüßt hat, ist die Stadt Herne ein Gemeinwesen, das an äußeren Reizen nur wenig zu bieten hat.“

Der Herner Historiker Ralf Piorr schaut zum 125. Geburtstag der Stadt Herne in zwei Teilen für die WAZ zurück auf die Stadtgeschichte. Heute: Teil 1

>> WEITERE INFORMATIONEN: „Man hörte von Herne allerlei Abenteuer“

„Als der Kohlenbergbau in Herne immer bedeutender wurde und der Ruhm der Stadt wie Goldton in die Ferne drang, lockte dieser auch viele Neulinge herbei, die den Tanz um das goldene Kalb mitmachen wollten“, schrieb Aurel von Jüchen in „Herne. Ein Reisebericht, 1911“.

Weiter heißt es: „Man hörte von Herne allerlei Abenteuer. Die Moral zeigte sich in höheren und niederen Schichten arg durchlöchert und Messerstechereien schienen hier zur allgemeinen Sitte zu gehören. Dadurch ist es gekommen, dass in manchen Köpfen abenteuerliche Vorstellungen von Herne spuken und manche es in eine Reihe mit Wild-West stellen. Es ist aber nicht wahr, dass die Bewohner von Herne allabendlich in Orgien schwelgen, und ebenso wenig, dass sie einen geladenen Revolver in der Hosentasche und ein Dolchmesser in den Stiefelschäften tragen.“