Herne. Die Schülervertretungen der Herner Gesamtschulen fordern eine Sonderregelung für den Abschlussjahrgang 2021. Dazu machen sie Druck aufs Land.

In der Diskussion um die Maßnahmen für einen sicheren Schulunterricht und Abschlussprüfungen wurde in den vergangenen Wochen und Monaten viel über die Kinder und Jugendlichen geredet, aber wenig mit ihnen. Nun melden sich die Schülervertretungen der drei Herner Gesamtschulen zu Wort – mit Forderungen an die Landesregierung zum Abschlussjahrgang 2021.

Die Kernforderungen zur Gestaltung der Abiturprüfungen lauten: ein Durchschnittsabitur mit der Wahloption, die Ergebnisse der zentralen Abiturprüfungen mit einzubeziehen. Konkret: Die Schüler nehmen an den zentralen Abiturprüfungen teil. Fällt das Ergebnis schlechter aus als die Vornote, wird nur die Vornote gewertet. Fällt das Ergebnis besser aus, fließt es zusammen mit der Vornote in die Endnote ein. So bekommt jeder seinen bestmöglichen Abi-Durchschnitt.

Außerdem fordern die Schülervertreter eine wesentliche Verschiebung der Abiturprüfungen um deutlich mehr als neun Tage.

Sieben Mal in Quarantäne im ersten Schulhalbjahr

Ihre Forderungen unterfüttern die Schüler mit ihren Erfahrungen. So schreibt der 19-jährige Emre Can Zengin, dass er mittlerweile am Rande der Verzweiflung sei und keinerlei Verständnis mehr für die Beschlüsse der NRW-Landesregierung habe. Ihm und seinen Mitschülern fehle mehr als ein ganzes Schulhalbjahr Präsenzunterricht, sein letztes halbes Schulhalbjahr in der Qualifikationsphase 2 sei nur im Distanzunterricht gestartet. „Ich kann für mich sprechen, dass ich mir nicht jedes Thema, was ich nicht beigebracht bekommen habe, selber beibringen kann. Allein im ersten Schulhalbjahr der Q2 war ich sieben Mal in Quarantäne.“

Da seine Schule viel später mit Online-Unterricht angefangen habe, weil die Schule nicht dafür ausgestattet sei, seien die Schüler mit Aufgaben überflutet worden, die sie selbstständig erarbeiten sollten. „Ein Feedback zu meinen abgesendeten Aufgaben hatte ich nicht verständlich erklärt bekommen.“ Deshalb ist für ihn klar: Eine Verschiebung der Abiturprüfungen um neun Tage nach hinten reiche nicht, um die Versäumnisse eines halben Jahres wieder gut zu machen.

Schülerin aus Herne: Vertiefung der Lerninhalte ist nicht möglich

Buket, ebenfalls 19 Jahre, fragt, wie sie lernen soll, wenn sie kein richtiges Umfeld habe? Kritisch werde es zum Beispiel, wenn sie gleichzeitig mit ihrem Bruder eine Videokonferenz habe. „Mein Bruder geht meistens in das Zimmer meiner Eltern und er muss immer wieder, während einer Videokonferenz, auch in das Kinderzimmer kommen, damit er Materialien holen kann, die er zusätzlich benötigt.“ Sie arbeite teilweise von 8 bis 20 Uhr an den Aufgaben, die sie von der Schule geschickt bekommt, doch eine Vertiefung der Lerninhalte sei nicht möglich.

Für Buket steht fest: „Die Chancengleichheit für alle Schülerinnen und Schüler, die Abiturprüfungen unter der Bedingung, dass alle den gleichen Wissensstand haben, ist nicht gewährleistet. Es kann nicht von uns erwartet werden, dass wir eine zentrale Abiturprüfung schreiben.“ Die vom Schulministerium immer geforderte Gleichbehandlung führe mit den Beschlüssen vielmehr zu einer Chancenungleichheit. Es sei nicht richtig, dass die Landesregierung Beschlüsse treffe, ohne ein Meinungsbild der Schüler einzuholen. Das Recht auf Mitbestimmung der Schüler werde missachtet, so herrsche ein Demokratiedefizit.

Herner Oberstufenleiterin unterstützt Forderung der Schüler

Unterstützung in ihrer Position erhält Buket von Nicole Ludwig, Oberstufenleiterin der Gesamtschule Wanne-Eickel. Das Lernen unter Corona-Bedingungen stelle sich aus ihrer Sicht so dar: Kein ruhiger Arbeitsplatz in der Familienwohnung wegen kleiner Geschwister im gemeinsamen Zimmer; hohe Lernbelastung aufgrund der individuellen Lernsituation und des noch nicht einheitlich und transparent laufenden Distanzunterrichts; hohe psychische Belastung aufgrund unterschiedlicher Anforderungen und Bedürfnisse; fehlende Sozialkontakte, familiäre Einbindung, schulische Ziele und unübersichtliche und umfassende Unterrichtsanforderungen.

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Dass unter diesen Voraussetzungen Schülerinnen und Schülern durch die Pandemie keine Nachteile entstehen dürfen, wie die Landesregierung es für die Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2021 annimmt, sei nicht einlösbar. Ludwig unterstützt die Forderungen der Schülervertretungen nach einem Durchschnittsabitur mit Wahloption. Sie böte den Schülerinnen und Schülern eine realistische Perspektive im Sinne einer ernstgenommenen Bildungsgerechtigkeit. Und an das Land gerichtet: „Wenn Sie sagen, das vergangene Schulhalbjahr habe fast vollständig im Präsenzunterricht stattgefunden und es zahle sich jetzt aus, dass unsere Schulen so lange wie möglich Präsenzunterricht erteilt haben, trifft das auf die Gesamtschule Wanne-Eickel leider nur bedingt zu.“

Die Schülervertretungen haben ihre Forderungen an die Abgeordneten des NRW-Landtags geschickt, außerdem haben sie eine Online-Petition gestartet: http://chng.it/Ww8ZyHPW.

>> NICHT DER ERSTE VORSTOSS AUS HERNE RICHTUNG SCHULMINISTERIUM

■ Bereits in den vergangenen Monaten hatte es Vorstöße aus Herne Richtung Landesregierung gegeben.

■ Anfang Dezember hat die Schülervertretung der Erich-Fried-Gesamtschule einen Hilferuf nach Düsseldorf geschickt - allerdings nicht an Schulministerin Yvonne Gebauer, sondern an die Oppositionsparteien SPD und Grüne. Schon damals haben sie ihre Furcht geäußert, dass sie ihre Abschlüsse nicht erreichen.

■ Bereits zuvor hatten rund 100 Herner Lehrer einen offenen Brief an Gebauer geschrieben und Kritik an der Corona-Politik der Ministerin geäußert.