Herne. Die neue Superintendentin Claudia Reifenberger spricht über Kirche und Pandemie und über die Erwartungen in ihrem neuen Amt.

Anfang Oktober wurde Claudia Reifenberger von der Kreissynode zur neuen Superintendentin gewählt. Im Interview mit der Herner WAZ spricht sie über Kirche in Zeiten der Pandemie und über die Erwartungen, die sie mit ihrem neuen Amt verbindet.

Frau Reifenberger, wie froh kann angesichts der Umstände in diesem Jahr das Fest sein?

Reifenberger: Ich bin sehr zuversichtlich, dass es ein frohes Weihnachtsfest wird, so wie wir es uns wünschen. Weihnachten wird sich einstellen, unabhängig davon, wie wir uns vorbereiten konnten. Das ist die Botschaft, die ich an der Kirche schätze: dass es unabhängig von dem ist, was wir Menschen machen, dass die Zusage da ist, dass Gott Mensch wird. Und das hören wir auf jeden Fall in diesem Jahr. Das ist der Anlass froh zu sein. Wann, wenn nicht jetzt, soll „Oh, Du fröhliche“ erklingen?

Wie schwer fällt es den Kirchengemeinden in diesem Jahr, die Gemeindeglieder zu erreichen?

Ich erlebe, dass die Menschen im Kirchenkreis sich viele Gedanken machen. Und das schon seit dem Sommer. Sie fragen sich, wie man unter den Gegebenheiten die Weihnachtsgottesdienste so feiern kann, dass sie Menschen ansprechen und unter den Bedingungen einen anderen Weihnachtsakzent zu setzen oder Menschen ganz neu zu erreichen. Da erlebe ich sehr viel Experimentierfreude und sehr viel Austausch. Ich lese auch selbst viel in Facebook-Gruppen, in denen Ideen ausgetauscht werden. Vielleicht erreichen wir Menschen, die sagen: „Das macht uns neugieriger als das, was vorher angeboten wurde.“

Kann die Pandemie zur Chance werden für die Kirche?

Ja, ich begreife die Pandemie auch als Chance, weil wir jetzt Dinge, die wir für unabdingbare Traditionen in der Adventszeit hielten, gar nicht umsetzen können und deshalb schauen können, was wir tatsächlich brauchen, um Advent und Weihnachten zu feiern.

Kann die Pandemie Anlass sein, über Angebote noch mal ganz neu nachzudenken?

Auf jeden Fall. Wir haben entdeckt, dass eine offene Kirche, in die Menschen zu anderen Zeiten kommen können als zum Sonntagmorgen, angenommen wird. Das haben wir in der ersten Welle stark gemerkt. Wir haben Begegnungen gehabt, die intensiver waren als nach einem normalen Gottesdienst, weil sie im Zwiegespräch stattfanden und nicht in einer großen Gruppe. Es gibt auch viele digitale Möglichkeiten, für die wir aber bislang nicht so ausgerüstet gewesen sind.

Reichen all diese Dinge, um den Zusammenhalt in einer Gemeinde aufrecht zu erhalten?

Nein, es geht nichts über die persönliche Begegnung. Die digitalen Angebote sind Signale, dass Kirche da ist und solidarisch ist. Wir haben aber gemerkt, dass es eine große Sehnsucht nach Gottesdiensten gibt. Ich habe im Sommer Gottesdienste mit Senioren gefeiert und habe die Rückmeldung bekommen: Endlich wieder. Die Menschen leiden darunter, dass sie sich nicht sehen können. Und wir müssen erkennen, dass wir jene Menschen abhängen, die nicht digital unterwegs sind, also in erster Linie Senioren. Da müssen wir darauf achten, dass wir uns nicht zu sehr auf die digitalen Formen fixieren. Auch in der Kirche müssen wir auf digitale Möglichkeiten zurückgreifen und zum Beispiel die nächste Synodaltagung am 14. Januar als Videokonferenz durchführen. Das ist eine schwierige Herausforderung, weil die Beteiligungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Das berührt die „protestantische DNA“, weil wir eine Beteiligungskirche sind. Darüber hinaus haben wir die Erfahrung gemacht, dass es bei den digitalen Angeboten, zum Beispiel den Kurzandachten aus der Kreuzkirche, mehr Klicks gibt als Besucher in die Kirche kommen. Wir überlegen, ob wir nach der Pandemie solche Angebote weiter vorhalten, weil sie offenbar noch einmal andere Leute anzusprechen scheinen. Aber es gibt natürlich nicht die eine Lösung für alles.

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Kommen wir zu Ihrer Wahl zur Superintendentin. Gab es nach der Wahl einen Moment, an dem Sie sich gefragt haben: Worauf habe ich mich da eingelassen?

Ja, bis zum Morgen des 1. Dezember, meinem Amtsantritt. Ich habe in der Nacht zuvor auch schlecht geschlafen. An meinem ersten Morgen im Kreiskirchenamt hatte ich den Impuls anzuklopfen, bevor ich in mein Büro gegangen bin. Mir ist auch klar geworden, dass das eine völlig neue Arbeit ist. Jetzt beginnt etwas Neues, vor dem ich großen Respekt habe.

Wie stark verändert sich Ihre Arbeit?

Es wird eine völlig neue Ära in meinem Pfarramt beginnen. Ich habe meine erste Pfarrstelle im Oktober 1999 angetreten. Ich wusste um Abläufe, worauf ich achten musste, worauf ich mich vorbereiten musste. Jetzt wird mir klar, dass ich verschiedene Dinge vielleicht nie wieder machen werde. Ich habe ganze Regale voller Bücher, bei denen ich mich frage, ob ich die noch mal benötige.

Dafür müssen Sie völlig neue Sachen machen...

...genau. Aber die Amtszeit beträgt acht Jahre. Vielleicht mache ich danach wieder Dinge, die ich bisher gemacht habe. Was ich jetzt zu machen habe, hat nichts mit dem Beruf zu tun, den ich bisher ausgeübt habe. Es ist ein völlig neues Berufsfeld. Was mir fehlen könnte, weil ich weiß, dass ich es brauche: Ganz normale Gottesdienste halten. Ich brauche die Begegnung mit Gemeindegliedern. Ich möchte nicht nur Gremienarbeit machen oder Unterschriften unter Verträge setzen.

Im Grund sind Sie jetzt Geschäftsführerin oder Vorstandsvorsitzende...

...genau. Darauf möchte ich mich aber nicht beschränken. Ich möchte alle Gemeinden kennenlernen und viele Gottesdienste besuchen, dann aber auch ganz normale Gottesdienste halten. Ich stehe also durchaus für Vertretungsdienste zur Verfügung. Ich werde ja keine geistliche Heimat mehr haben. Mir ist jetzt erst klargeworden, dass ich gar nicht mehr unbefangen Gemeinden besuchen kann, weil ich im Amt der Superintendentin wahrgenommen werde. Das wird eine neue Erfahrung.

Und es kommen weitere neue Erfahrungen. In der neuen Rolle müssen Sie sich auch mit dem Thema Mitgliederschwund auseinandersetzen.

Das ist ein Problem. Das hat auch etwas mit der Frage zu tun, ob das Fest froh werden kann. Ich glaube, wir sind in der Kirche durch die Krise in einer Situation, in der wie durch ein Brennglas deutlich wird, wie sehr wir uns als Kirche komfortabel eingerichtet haben in der Gesellschaft, weil alles lief. Weil wir schrumpfen, müssen wir schauen, woran man uns erkennen kann. In diesen Bereichen werden wir auch Geld investieren. Es geht um Profilbildung. Für uns selbst, aber auch für andere, damit sie uns entdecken. Die Komfortzone, in der sich Kirche eingerichtet hat, wird jetzt aufgebrochen. Dazu gehört, dass wir nicht beliebig werden dürfen und an manchen Stellen den Mainstream verlassen.

Sehen Sie auch angesichts von vorhersehbar sinkenden Finanzmitteln weitere Notwendigkeiten von Strukturveränderungen?

Kirche hat sich ja immer verändert. Es ging ja nie darum, sich niederzulassen für die Ewigkeit in einer bestimmten Struktur. Kirche muss immer in Bewegung sein. Wir singen das ja auch, doch wir leben das so selten. Wir müssen immer gemeinsam auf dem Weg sein.

Und Sie gehen vorweg und bestimmen die Richtung? Mit anderen Worten: Haben Sie sich etwas Bestimmtes vorgenommen für das neue Amt?

Kommunikation ist ganz wichtig. Es kommt mehr denn ja darauf an, dass die, die Verantwortung tragen, nicht einfach ihren Finger heben, weil jemand etwas vorentschieden hat. Ich muss mich natürlich tiefer in Dinge einarbeiten als andere, deren Hauptberuf das nicht ist. Aber es ist mein tiefstes Interesse, Entscheidungen so deutlich zu machen, dass für jeden einzelnen deutlich wird, wofür oder wogegen er sich entscheidet.

>> ZUR PERSON

-- Mit Claudia Reifenberger steht erstmals eine Frau an der Spitze des Kirchenkreis Herne/Castrop-Rauxel. Sie folgt Reiner Rimkus, der nicht mehr kandidierte.

-- Reifenberger kam erst 2016 in den Kirchenkreis, als sie Pfarrerin in der Kirchengemeinde Castrop-Rauxel-Nord wurde.

-- Zuvor hatte die 55-Jährige eine Pfarrstelle in Lünen und war im dortigen Kirchenkreis bereits stellvertretende Superintendentin.