Herne. WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann hat ein Experiment gewagt. Er versuchte die Voraussetzungen zu erfüllen, um bei der OB-Wahl antreten zu dürfen.
Der Wahlausschuss hat in dieser Woche über die Zulassung der Kandidaten zur Oberbürgermeisterwahl entschieden. Neben den bekannten Namen - Frank Dudda, Thomas Reinke und Peter Neumann-van Doesburg - stand ein vierter auf der Liste: Tobias Bolsmann. Der Ausschuss wies meinen Vorschlag zurück - Ende eines Selbstversuchs, den ich im Frühjahr begonnen hatte.
23. April: Zum Auftakt erlaube ich mir einen winzigen Spaß: „Guten Tag, ich möchte Oberbürgermeister werden. Können Sie mir da helfen?“, frage ich die beiden Damen an der Pforte des Rathauses. Während einer die Gesichtszüge einen Hauch entgleiten, stellt sich die andere halblaut die Frage: „Ja, wer könnte so etwas wissen?“ „Der Oberbürgermeister“, antworte ich. „Stimmt, aber der hat gerade Besuch“, sagt sie und schickt mich in den dritten Stock zum Amt für Ratsangelegenheiten. Falsche Adresse. Zwei freundliche Herren teilen mir mit, dass ich zum Wahlamt muss.
Zwingend ist der Wahlvorschlag
Im Wahlamt empfängt mich Bianca Hudziak und erläutert mir die Voraussetzungen, die ich erfüllen muss. Ich bin zwar eingeborener Wanne-Eickeler und lebe die 50 Jahre meines bisherigen Lebens in der Stadt, doch der Wohnsitz Herne ist - entgegen meiner Vermutung - gar nicht erforderlich. Hauptwohnsitz muss in der Bundesrepublik sein. Ebenfalls nicht erforderlich: ein polizeiliches Führungszeugnis - wäre auch kein Problem gewesen...
Zwingend ist der Wahlvorschlag. Auf dem zweiseitigen Formular muss ich meine Wählbarkeit nachweisen – und ich muss meiner eigenen Benennung als Einzelbewerber per Unterschrift selbst zustimmen. Außerdem muss ich zwei Vertrauenspersonen benennen. Sie sollen einen ständigen Kontakt zwischen Bewerber und Wahlamt garantieren, falls ich zeitlich zu sehr im Wahlkampf eingespannt bin...
Verwandte und Arbeitskollegen unterschreiben selbstverständlich
Höchste Hürde: 305 Unterstützungsunterschriften. Ich muss 305 in Herne Wahlberechtigte finden, die meine Kandidatur unterstützen. Das müssen sie mit Namen, Adresse, Geburtsdatum und Unterschrift bestätigen. Auf ganzseitigen DIN-A-4-Formularen. Also brauche ich mindestens 305 Kopien. Am 24. April händigt Bianca Hudziak mir den kleinen Stapel aus - jetzt fängt der lange Weg zur Kandidatur erst richtig an…
305 Unterschriften. Diese Zahl ergibt sich aus der Zahl der Ratsmandate, die mit fünf multipliziert wird. Die anderen drei Kandidaten müssen diese Hürde nicht überspringen, weil ihre Parteien im Rat vertreten sind. Ich habe noch kein Gefühl dafür, ob das viel oder wenig ist. Das erste Dutzend sammelt sich von selbst. Verwandte und Arbeitskollegen unterschreiben selbstverständlich.
"Demokratie kostet", rät der amtierende Oberbürgermeister
Als ich meine Kameraden aus dem Basketballteam anspreche, ernte ich - wenig überraschend - lustige Sprüche. Ein Kasten Bier als Währung für eine Unterschrift wird ins Spiel gebracht. Auch dieser Ratschlag kommt: „Mach’ doch einen Aufruf über Facebook.“ Doch Facebook nutzt wenig, weil die Menschen echte Formulare ausfüllen müssen. Ein Arbeitskollege - aus der Wirtschaftsredaktion - bietet mir an, das Wahlprogramm für mich zu schreiben. Er war mal politischer Korrespondent in Berlin, wäre ein interessantes Angebot. Meine Ehefrau wiederum könnte an meiner Kandidatur Gefallen finden, weil sie als First Lady dann ja neue Schuhe und Handtaschen bräuchte...
11. Mai: Am Rande eines Termins spreche ich den OB Horst Schiereck an. Seine Unterschrift - das wäre ein Coup. Der OB weiß längst über mein Projekt Bescheid - die Kommunikation innerhalb der Verwaltung funktioniert. Er gibt mir keine Unterschrift – sonst würde er aus der SPD ausgeschlossen. Doch Schiereck ermuntert mich zu einer echten Kandidatur. Dann käme mal Schwung in die Bude. Als ich ihm erläutere, dass ich mit meiner Kandidatur keine teure Stichwahl auslösen wolle, sagt er einen bemerkenswerten Satz: „Demokratie kostet.“
Sakko? Ja! Krawatte? Auf keinen Fall
12. Mai: Am vergangenen Wochenende hat mein Experiment in den politischen Kreisen offenbar die Runde gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemanden nervös gemacht habe, allerdings erkundigt sich SPD-Kandidat Frank Dudda, was es mit meiner Kandidatur auf sich habe. Mein Gespräch mit ihm bringt mir neue Erkenntnisse: Er hat am Wochenende 300 Rosen auf der Bahnhofstraße verteilt. Längst nicht alle Passanten hätten gewusst, dass er OB-Kandidat ist.
19. Mai: Ich komme bei meiner Unterschriftensammlung mit Verwandten und Bekannten zu langsam vorwärts. Ich beschließe, mich zum ersten Mal in den „Nahkampf“ zu wagen. Schon zu Hause stelle ich fest, dass ich „wählerisch“ bei der Kleidung werde. Sakko? Ja! Krawatte? Auf keinen Fall! Schließlich werde ich mich auf den Eickeler Wochenmarkt stellen.
"Wir haben schon genug, die Unsinn machen"
Ich platziere mich zwischen Kartoffelhändler und einem Stand mit Handtaschen. Die Reaktionen auf meinen Spruch „Guten Tag, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ sind teilweise erwartbar, teilweise überraschend. Eine Frau gesteht, dass sie keine Ahnung von Politik hat, ich solle mich an ihren Mann wenden. Der aber gar nicht in Sichtweite ist… Eine Frau unterschreibt, weil sie mich so „sympathisch“ findet. Eine andere unterschreibt mit den Worten „große Chancen haben Sie ja nicht“. Was mich beinahe irritiert: Niemand fragt mich nach einem Wahlprogramm oder was ich besser machen will.
27. Mai: Der nächste Versuch, diesmal auf dem Mittwochsmarkt am Buschmannshof. Und diesmal höre ich den Satz, auf den ich beinahe gewartet habe. „Die machen doch sowieso nur, was sie wollen“, sagt ein älterer Herr, als ich ihn anspreche. Seine Unterschrift bekomme ich nicht. Aber es gibt noch eine Steigerung: „Wir haben schon genug, die Unsinn machen. Da brauchen wir nicht noch einen“, erwidert ein anderer älterer Herr.
Ein Kandidat ohne Partei? - Da werden die Menschen zugänglicher
Spätestens in diesem Moment offenbart sich, dass die Beziehung zwischen Politik und Menschen bestenfalls als kühl bezeichnet werden kann. Dazu passt, dass die Menschen zugänglicher werden, sobald ich sage, dass ich keiner Partei angehöre und völlig unabhängig bin. „Das ist ja schon mal gut“, ist eine der Reaktionen. Und: Ich werde erstmals nach einem Programm gefragt – von einer jungen Familie. „Alles für Arbeitsplätze“ antworte ich. Und ich punkte damit, dass ich vom Kita-Streik betroffen bin. Das Ergebnis: zwei Unterschriften. Die Gesamtbilanz kann sich sehen lassen. 20 Formulare in 90 Minuten.
20. Juni: Erste „Auszählung“ nach dem Urlaub: Ich komme auf 124 Unterschriften – weniger als die Hälfte. Das wird ein weiter Weg. Allerdings: Ich habe inzwischen einige „Außenstände“, die Frage ist, wie gut der Rücklauf ist. In den folgenden Tagen beginne ich mit „Haustürgeschäften“. Fahre zu Bekannten, um mal zwei, mal vier Unterschriften einzusammeln. Manchmal fühle ich mich wie ein Versicherungsvertreter.
Nur acht Unterschriften
23. Juni: Das Wahlamt schickt meiner Ehefrau – als meiner Vertrauensperson – eine Mahnung. Nach einer ersten Prüfung des Wahlvorschlags sei festgestellt worden, dass er noch nicht gültig ist, bzw. einen Mangel aufweist. Ich habe schlicht noch keine einzige Unterschrift eingereicht. Bianca Hudziak empfiehlt, die Formblätter mindestens eine Woche vor Fristende einzureichen, damit sie geprüft werden können und Mängel von mir noch behoben werden können.
27. Juni: Ein Samstag, ich beschließe, auf der Bahnhofstraße für mich zu werben. Und zum ersten Mal kommen mir Zweifel, ob ich die 305 Unterschriften zusammenbekomme. Auf die Frage „Kommen Sie aus Herne?“ höre ich überraschend oft ein „Nein“. Entweder kommen mehr Kunden aus der Region nach Herne, als ich angenommen hatte, oder die Menschen wehren mit einer kleinen „Notlüge“ meinen Annäherungsversuch ab. Kann ich Ihnen das übel nehmen? Selbstverständlich nicht. Ich gehe ja selbst oft genug weiter, wenn ich „von der Seite“ angesprochen werde. Hinzu kommt, dass OB-Kandidat Thomas Reinke am Kugelbrunnen steht. Die 1a-Lage wollte ich eigentlich nutzen. Ein Passant, den ich anspreche, gibt sich als CDU-Mitglied zu erkennen. Seine Unterschrift werde ich selbstverständlich nicht bekommen. Er empfiehlt mir, mal zur Zeitung zu gehen, um mich ein bisschen bekannter zu machen. Guter Hinweis... Leicht frustriert verziehe ich mich nach fast eineinhalb Stunden – mit nur acht Unterschriften.
Wie ein Schneeballsystem
1. Juli: Wanne-Eickel macht mehr Spaß. In einer halben Stunde landen neun Unterschriften in meiner Mappe. Wenn ich die Menschen frage, ob sie aus Wanne-Eickel kommen, bleiben viele stehen. Aber auch diese Reaktion ernte ich: Als ich eine Dame anspreche und ihr mitteile, dass ich OB-Kandidat werden will, legt sie ihre Hand auf meinen Arm, schaut mich leicht mitleidig an - und geht wortlos weiter. An diesem Morgen knacke ich die 200er-Grenze.
Dass ich so flott vorangekommen bin, liegt an einer gewissen Penetranz, die ich mir angeeignet habe. Ich frage nach Terminen nach Unterschriften, auch bei einer Geburtstagsfeier - mit Einwilligung des Gastgebers. Außerdem hat sich fast so etwas wie ein Schneeballsystem entwickelt. Diverse Freunde und Bekannte sammeln in meinem Namen. Allerdings merke ich, wie meine Gedanken immer öfter um die Unterschriften kreisen. Ich frage mich, wen ich noch ansprechen könnte.
Mehr als die nötigen 305 Unterschriften
22. Juli: In den vergangenen Tagen sind zahlreiche „Außenstände“ eingetroffen. Irgendwann habe ich begonnen, die Zahl der fehlenden Formulare herunter zu zählen. An diesem Mittwoch bin ich bei Null angelangt. Am Ende habe ich 311 Unterstützungsunterschriften in der Hand. Versuch geglückt. Doch ich lasse die Frist zur Einreichung - 18 Uhr am 27. Juli - verstreichen. Der Wahlausschuss soll meinen Vorschlag zurückweisen und damit das Experiment beenden.
Kommentar: Einmischen statt abwenden
„Warum dieses Experiment, mag sich mancher Leser fragen. Wollen wir Hape Kerkeling („Isch kandidiere“) nacheifern oder Martin Sonneborn, der es mit seinem Satire-Produkt „Die Partei“ tatsächlich ins EU-Parlament geschafft hat? Nein! Wir wollen den Experten in Sachen Humor keine Konkurrenz machen. Das wäre eine schlechte Kopie. Doch vor allem: Politik ist eigentlich zu ernst, um sich darüber lustig zu machen.
Eine Motivation bestand darin, dem Wahlvolk mit dem Gang auf die Wochenmärkte den Puls zu fühlen. Der Befund ist in mehrfacher Hinsicht bedenklich. Einerseits hat sich offenbart, dass das Wissen um die politischen Abläufe in Teilen der Bevölkerung übersichtlich ausgeprägt ist. Andererseits kann die Beziehung zwischen den Menschen und den Politikern in weiten Teilen als zerrüttet bezeichnet werden. Besserung scheint in absehbarer Zeit nicht in Sicht.
Vor diesem Hintergrund wollten wir beweisen, dass man sich nicht von der Politik abzuwenden muss, sondern sich einmischen kann. Dass ich mehr als die nötigen 305 Unterschriften sammeln konnte, offenbart: Es funktioniert.
Nun mag man einwenden, dass die Versuchsanordnung nicht gänzlich realistisch war, weil Journalisten über umfangreiche Netzwerke verfügen. Doch dieser Punkt verfängt nicht wirklich. Auch jeder „echte“ Bewerber würde seine Netzwerke nutzen. Außerdem: Ich habe die Unterschriften mehr oder weniger „nebenbei“ gesammelt, musste aus beruflichen Gründen manche aussichtsreiche Veranstaltung auslassen. Hinzu kommt: Ich konnte - aus verständlichen Gründen - nicht das Instrument Presse nutzen, um für mich zu werben.
Warum am Ende doch keine Kandidatur?
Erstens: Man stelle sich vor, dass einige Wähler tatsächlich ihr Kreuz bei meinem Namen machen und 0,X Prozent Stimmenanteil eine Stichwahl auslösen. Dies würde für die Stadt Kosten von mindestens 150.000 Euro verursachen. Finanzieller Aufwand der Stadt und journalistischer Ertrag würden in einem krassen Missverhältnis stehen.
Zweitens: Als Journalisten beobachten wir den politischen Prozess und kommentieren ihn. Doch wir mischen uns nicht ein.
Andere Menschen aber können - und sollten - sich einmischen. Es muss ja nicht gleich die OB-Kandidatur sein.