Berlin. .

Heimkind sein – das war für die Betroffenen bis in die 70er Jahre hinein nicht nur mit einer strengen Erziehung verbunden, sondern mit Demütigungen, Schlägen und oft genug auch Missbrauch. Der ZDF-Fernsehfilm der Woche beschäftigt sich mit diesem Thema: „Und alle haben geschwiegen“ (4. März, 20.15 Uhr) ist der Film von Dror Zahavi betitelt. Redakteurin Petra Treiber sprach darüber mit Peter Wensierski, Autor des Spiegel. Sein Buch „Schläge im Namen des Herrn“ war Vorlage für diesen Film.

2003 haben Sie das erste Mal über das Schicksal von Heimkindern berichtet, 2006 erschien Ihr Buch, jetzt gibt es darauf basierend eine Verfilmung. Ein sehr langer Zeitraum, bis das Thema in der Öffentlichkeit angekommen ist, oder?

Wensierski: Diese Menschen haben in den Heimen schlimmste Schäden für ihr ganzes Leben erlitten. Der Film zeigt aber, dass es sich lohnt, hartnäckig zu bleiben, das Schweigen zu überwinden und das Unrecht auszusprechen. Bis sich der Petitionsausschuss des Bundestages damit beschäftigt hat, hatten die Betroffenen keine Fürsprecher.

Von wie vielen Heimkindern sprechen wir?

Wensierski: Es wird geschätzt, dass von 1945 bis 1975 gut 800.000 bis über eine Million Mädchen und Jungen in Heimen untergebracht waren. Mehr als die Hälfte der Einrichtungen waren in kirchlicher Trägerschaft, knapp 25 Prozent staatlich.

Wie kamen Kinder ins Heim?

Wensierski: Die Kinder hatten ins Unrechtes getan. Oft waren es nichtige Gründe und Denunziationen, die zur Einweisung in ein Heim führten. „Sittliche Verwahrlosung“ stand häufig in den Akten. Wenn Mädchen Jungs zu häufig anlächelten, verpönte Rock’n’Roll-Musik hörten oder aber als Minderjährige ein uneheliches Kind hatten, kam das Jugendamt. Die Unterbringung wurde zum Beispiel allein erziehenden Müttern „nahe gelegt“ – und für viele war das sicher eine bequeme Lösung.

Was erwartete die Heranwachsenden in den Heimen?

Wensierski: Vor allem die Botschaft: „Du bist nichts wert.“ Sie wurden zu Kindern der Sünde erklärt. In vielen Heimen wurden sie zu Nummern, weil es für das Personal bequemer war, sich diese zu merken. In Irland bekamen die Kinder sogar falsche Namen, was es besonders schwer macht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. In den Köpfen der etlicher Erzieher spukte noch das Ideal von der „Erziehung durch Arbeit“ in den Köpfen herum, wie in der Nazizeit. Das, was die Kinder in diesen Anstalten erlebten, hat aber den Namen Erziehung nicht verdient.

Es gab Schläge, aber gehörte das nicht damals zur Erziehung?

Wensierski: „Das war doch der Zeitgeist“ – dieses Argument habe ich auch am Runden Tisch Heimerziehung sehr oft gehört. Die Prügelstrafe war aber bereits verboten. Das System war eine Schande und hat Unglaubliches angerichtet bei den Betroffenen. Noch Jahrzehnte später fühlen sie sich minderwertig, stigmatisiert. Demütigungen waren an der Tagesordnung. Und sexueller Missbrauch.

Zeigt das der Film?

Wensierski: Der Film ist nach Motiven des Buches entstanden und er ist schon hart in vielen Dingen. Aber er kann nicht alles zeigen. Eine Szene, in der eine Schwester ein Mädchen unter der Dusche am Rande des sexuellen Missbrauchs berührt, ist das Äußerste.

Sind die Charaktere real?

Wensierski: Es gibt Vorbilder für die verschiedenen Figuren, aber die Geschichte und der Handlungsort sind fiktiv. In der anschließenden Dokumentation treten dann ehemalige Heimkinder auf, die auch in meinem Buch vorkommen.

Haben Sie noch Kontakt zu den ehemaligen Heimkindern?

Wensierski: Ja, zu vielen bestehen noch Kontakte. Es gibt mittlerweile Foren, in denen sie sich austauschen, einige haben ihre Erlebnisse in Büchern verarbeitet. Es gibt aber auch jene, denen die Aufarbeitung nach wie vor schwer fällt, die Probleme haben, ihren Alltag zu regeln.

Was haben Ihr Buch, der Petitionsausschuss, der Runde Tisch bewirkt?

Wensierski: Das Thema ist kein weißer Fleck mehr in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es gibt die Möglichkeit zur Akteneinsicht und zur Aufarbeitung. Nicht wenige Ehemalige haben abgefangene Briefe in den Unterlagen entdeckt, was zu ganz neuen Einsichten geführt hat. Und es gibt einen Entschädigungsfonds, in den Kirchen und die Bundesländer einzahlen. Ein Tropfen auf den heißen Stein zwar, aber eine Anerkennung (und die Sicherung des Rentenanspruchs) dafür, dass die Kinder wie in einem Lager oft unentgeltlich gearbeitet haben. Nur mit einer Entschuldigung, da tun die Kirchen sich immer noch schwer...

Und Ihr persönliches Fazit?

Wensierski: Was ich nach all meinen Recherchen vor allem begriffen habe: Wie nachhaltig Dinge auf Kinder einwirken. Und dass wir deshalb unsere Kinder sorgfältig erziehen müssen, damit aus ihnen später keine traumatisierten Erwachsenen werden.

Zur Person: Peter Wensierski wurde 1954 in Heiligenhaus (Niederberg) geboren. Nach dem Abitur auf dem Theodor-Heuss-Gymnasium in Essen-Kettwig 1973 kehrte er seiner Heimatstadt den Rücken, um in Berlin zu studieren. Als Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist berichtete er aus Ost- und Westdeutschland. Für den Film „Mauerläufer“ bekam er 1986 den Bundesfilmpreis.

Seit 1993 arbeitet Peter Wensierski für den Spiegel. 2003 begannen die Recherchen zur Heimkinder-Thematik. Das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ wurde 2006 veröffentlicht. 2012 erhielt der gebürtige Heiligenhauser das Bundesverdienstkreuz am Bande.