Hattingen. Superhirn und Weltmeister, Gedächtnis-Genie, Zahlenkünstler und Bestseller-Autor: Boris Konrad gibt uns seine Top-Tipps fürs Gehirnjogging.

Boris Nikolai Konrad ist Neuro­wissenschaftler und mehrfacher Gedächtnis-Weltmeister. Er merkt sich unfassbar viele Zahlen, Namen, was auch immer. Er tritt als Coach auf. Schreibt Bücher. Kurz: Der 39-Jährige aus Winz-Baak ist Hattingens Superhirn.

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Seinen wohl größten Auftritt hat er im März 2004 – als er zum ersten Mal bei „Wetten, dass...“ mitmacht und ihm 16 Millionen Menschen zuschauen, wie er sich 50 verschieden gedeckte Tische richtig merkt. Thomas Gottschalk, der an diesem Abend zum 100. Mal die Show moderiert, ist begeistert.

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Boris Konrads Fähigkeiten verblüffen, national wie international. Fünfmal wird er vom chinesischen CCTV zu verschiedenen Formaten eingeladen, etwa der „Guinness-Show der Rekorde“ – natürlich stellt er einen auf, im Zahlenmerken.

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Boris Nikolai Konrad wird in Winz-Baak groß, mit Blick auf die Ruhr. Sein Abi macht er am Gym­nasium Waldstraße, übrigens gemeinsam mit Daniel Aßmann, der heute als WDR-Moderator auf dem Bildschirm präsent ist. Seine Hobbys: Sachen merken und pfeifen – für den VfL Winz-Baak ist er als Fußball-Schiedsrichter bis zur Kreisliga A im Einsatz.

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Was er sich merkt? Bei seinem ersten Weltmeistertitel 2008 in Bahrain prägt er sich innerhalb einer Viertelstunde 255 Wörter in der richtigen Reihenfolge ein. 2010 schafft er dann 201 Namen in 15 Minuten.

Interview mit Hattingens Superhirn Boris Nikolai Konrad

Der 39-Jährige forscht u.a. zu den neuronalen Grundlagen unserer Gedächtnisleistungen in Nijmegen. Thomas Mader hat ihn interviewt: Was können Normalmerker vom Gedächtnisweltmeister lernen?

Wie wird man Gedächtnisweltmeister?

Konrad: Mit dem Team bin ich mehrfach Weltmeister geworden, in der Einzelwertung habe ich Platz vier erreicht. Dazu gekommen bin ich, weil ich ein Jahr vor dem Abitur in Hattingen in meinem Kinderzimmer saß und RTL geguckt habe. Dort lief 2002 die Grips-Show mit Günther Jauch, und ein Gedächtnisexperte hat in der Sendung Verona Pooth, damals noch Feldbusch, beigebracht, wie es funktioniert. Wenn die das kann, kann ich das auch, dachte ich. Und: Vielleicht hilft mir das fürs Abi.

Ist Gedächtnissport etwas für faule Schüler?

Gedächtnistechniken ja, Gedächtnissport ist noch einmal etwas anderes. An der Uni konnte ich sicher viele Dinge mit weniger Aufwand lernen als die meisten Kommilitonen. Aber für den Sport habe ich viel trainiert und Zeit aufgewandt, wie man das für andere Sportarten auch macht – und mir hat’s sehr viel Spaß und Freude gemacht.

Kann man es allen Schülern empfehlen?

Zumindest sollten alle wissen, dass es diese Techniken gibt. Dann kann man selber herausfinden, ob das etwas ist für einen ist. In wissenschaftlichen Studien konnten wir zeigen, dass es sehr wenige bis gar keine Voraussetzungen benötigt. Sicherlich haben einige Teilnehmer mehr profitiert als andere. Aber alle, die das Training gemacht haben, haben deutliche Verbesserungen gezeigt.

Wie merkt man sich beim RTL-„Supertalent“ die Vornamen, Geburtsdaten und Sitzplatznummern sämtlicher 500 Zuschauer im Publikum?

Man setzt sein bildhaftes Denken ein und sein Ortsdenken. 2014 gab es den Nobelpreis für den Nachweis, dass es in unserem Gehirn eigene Ortszellen und Netzzellen für die räumliche Orientierung gibt. Alles, was wir erleben, wird in diesem System mit abgespeichert. Mit der Betonung auf Erleben. Namen, Fremdwörter oder Sitzplatznummern alleine sind sehr viel schwieriger für unsere Hirn zu verarbeiten. Schaffe ich es, das vorhandene Ortsnetzwerk einzubinden, klappt das viel besser.

Und das bildhafte Denken?

In der Praxis habe ich für alle zweistelligen Zahlen ein Bild vorbereitet. Diese hundert Bilder muss man sich einmal antrainieren. Die Sitzplatznummer 2478 zum Beispiel entspricht einem Narren mit einem Kaffee. Wenn ich dem Narren jetzt auch noch einen Ort gebe, dann kann ich ihn jederzeit wiederfinden. So schaffe ich mir Gedächtnispaläste, in denen ich die Bilder in bestimmten Reihenfolgen ablegen kann. Ich lerne Wege, zum Beispiel in der eigenen Wohnung oder durch Hattingen; in Dortmund an der Uni habe ich einige Wege und in Bochum am Stadion. Für mein Gehirn ähnelt das Erinnern der Sitzplatznummer 2478 dann einem Spaziergang bei meinen Eltern, und am Busbahnhof sitzt dieser Narr und jongliert Kaffeetassen.

Aber auch 500 Gesichter muss man sich merken können.

Das Tempo ist Trainingssache. Aber wenn wir über einen Mittelaltermarkt in Hattingen gehen würden und uns nachher am Bierstand darüber unterhalten, welche merkwürdigen Dinge wir gesehen haben, dann stellen wir fest: Unser Gehirn speichert solche Sachen ziemlich automatisch ab. Nicht in allen Details, nicht für immer. Aber erst mal sind die da.

Wie lange?

Man kann die Technik auch fürs langfristige Lernen einsetzen, für Studium oder Beruf. Gestern habe ich mir in einem holländischen Fernsehstudio 100 Namen in fünf Minuten gemerkt. Die weiß ich auch heute noch. In ein paar Tagen die meisten noch, in einem Monat, wenn’s ausgestrahlt wird, noch die zehn, die ich abgefragt wurde, weil die auf diesem Wege noch einmal eine Emotion für mich bekommen haben.

Würde ich aber die Strecke heute und morgen noch einmal gedanklich durchgehen, dann wüsste ich alle Namen auch in einem Monat noch. Die Studien zeigen auch: Das Training zahlt sich aus, Erinnern strengt weniger an. Ein Kartenspiel mit 52 Karten ist für mich wie für jemand anderen drei Zahlen.

Wie wichtig ist regelmäßiges Training?

Weniger als im Sport, aber schon auch wichtig. Ich bin schon mehrere Jahre nicht mehr in der absoluten Weltspitze. Ich komme im Wochenschnitt auf eine halbe bis eine Stunde Training, mal in der Mittagspause, mal bei einem Online-Turnier – und ich kann mein Niveau problemlos halten. Nur die Weltspitze wird immer besser in diesem jungen Sport. Da komme ich mit meinem Aufwand nicht mehr hinterher. Gerade am Anfang ist die Lernkurve enorm steil – aber ein Nachmittagsseminar genügt für den Einstieg auch nicht. Wenn man vier Wochen lang zwanzig bis dreißig Minuten pro Tag aufwendet, kann man viel erreichen.

Wie können Normalmerker sich etwas abschauen, die nicht gleich in ein solches Training einsteigen wollen?

Man kann sich vornehmen, sich beim Lesen dieses Artikels etwas vorzustellen. Interview mit einem Gedächtnisweltmeister, echt interessant. Bevor ich das nächste Stück lese, frage ich mich nach 30 Sekunden: Was stand da eigentlich drin? In dem Moment komme ich mir vielleicht blöd vor, ich hab’s ja gerade erst gelesen. Aber die Studienlage ist eindeutig: Die Konsolidierung eines Lerninhaltes wird massiv dadurch beeinflusst, ob ich ihn noch einmal abgerufen habe. Ich kann auch die ganze Zeitung nach dem Lesen noch einmal gedanklich durchgehen: Was fand ich jetzt eigentlich interessant, was will ich behalten? Wenn man sich dann noch Bilder vorstellt, bringt das schon eine Menge: Ah, der Artikel ist von Thomas Mader geschrieben – da stell ich mir vor, wie er zusammen mit Thomas Gottschalk über einen Marder berichtet.

Ah, okay. Und wie kann ich mir demnächst eine Telefonnummer merken?

Wenn es nur ab und zu mal der Fall ist: Die Ziffern durch Bilder ersetzen. Eins ist wie ein Baum. Vier Räder hat das Auto. Wenn man es öfter braucht, sollte man einmal in das Training investieren. Und dann ist es wie Fahrradfahren, und man kann sich auch eine IBAN merken.

Sie haben dann sicher alle Geburtstage ihrer Freunde drauf.

Das ist bei mir natürlich sehr gefährlich, wenn ich einen verpasse. Ich sag dann immer: Das ist kein Gedächtnisfehler. Ich weiß ja noch deinen Geburtstag. Das Abrufen zu einem bestimmten Zeitpunkt nennt man „prospektives Gedächtnis“, das ist etwas schwieriger zu trainieren, aber da bin ich jemand, der seine Denktechniken mit Technologie unterstützt. Und ich guck dann auch morgens in meinen elektronischen Kalender.

Ist man jemals zu alt, um diese Techniken zu lernen?

Nein. Nur wenn wir über bestehende Erkrankungen reden, helfen sie leider auch nicht mehr. In der Prävention von Demenz ist Gedächtnistraining allerdings nützlich. Nicht um die Krankheit zu verhindern, aber man baut eine kognitive Reserve auf. Wenn besser trainierte Netzwerke da sind und etwas verloren geht, hat man mehr, auf das man noch zurückgreifen kann. Studien zeigen: Die Krankheit wird später einsetzen, der Verlauf wird schneller sein. Man hat Zeit mit Lebensqualität gewonnen.

+++ Dieser Text ist zuerst am 10. August 2023 erschienen +++