Hattingen. Eine Französin (70) ist auf den Spuren ihrer eigenen Geschichte unterwegs – die jüdischen Familie Urias hatte einst Hattingens größtes Kaufhaus.

So gespannt auf Besuch aus dem Ausland war Stadtarchivar Thomas Weiß selten. Catherine Urias war einer Einladung aus Hattingen gefolgt – auf den Spuren ihrer eigenen und der deutschen Geschichte. Denn sie ist die Enkelin der jüdischen Kaufmannsfamilie Urias, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg große Bedeutung für und in der Stadt Hattingen hatte.

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Weiß wartet gemeinsam mit Archivarin Marlene Klutzny (23) auf die 70-Jährige, die von Judith Nockemann am Kölner Flughafen abgeholt wird. Die 56-Jährige ist Lehrerin an der Realschule Grünstraße, durch sie kam der Kontakt zustande.

Zeitgemäßes Kaufhaus für Hattingen mit 22 Spezialabteilungen

Das Kaufhaus Urias am Steinhagen 20/22 in Hattingen.
Das Kaufhaus Urias am Steinhagen 20/22 in Hattingen. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Aufgeschlagen hat Weiß alte Schriften und Bücher. In einem ist das große Kaufhaus der Urias’, am Steinhagen 20/22, zu sehen. „Es ist ein zeitgemäßes Kaufhaus in Hattingen“, ist da zu lesen. „Moderne, lichtdurchflutete Geschäftsräume mit 22 Spezialabteilungen und circa 50 Angestellten, ein Faktor heute im Wirtschaftsleben der Stadt.“

Und da sitzt sie nun, die elegant gekleidete, schlanke Französin, die von Beruf Juristin war und an der Universität von Versailles lehrte. Sie spricht gut deutsch mit einem charmanten französischen Akzent, staunt über die alten Fotos, die Thomas Weiß ihr zeigt und füllt das Archivmaterial mit Leben. „Wir haben so viel Informationen über das Leben ihrer Familie, aber das, was sie uns hier erzählen, das wussten wir bis heute nicht.“

Für Hattingens Stadtarchivar ist das Treffen von großer Bedeutung

Josef Urias (1879-1943), der Großvater von Catherine Urias.
Josef Urias (1879-1943), der Großvater von Catherine Urias. © Funke Foto Services | Jürgen Theobald

Catherine Urias kann die Personen auf den alten Fotos sofort zuordnen und hat selbst noch Bilder mitgebracht, die eigene Geschichten erzählen. Für Thomas Weiß ist das Treffen von großer Bedeutung. „Man muss sich das vorstellen“, sagt er. „Die Familie war in Hattingen voll integriert. Sie war sehr reich, zeichnete sich aber immer durch großes soziales Engagement aus. Der Urgroßvater unseres Besuchs, Jakob Urias, war Stadtverordneter, Großvater Josef, geboren am 13. November 1879, war Magistratsmitglied.“ Und Judith Nockemann fügt hinzu: „Josef Urias war ein Sohn der Stadt Hattingen.“

In der großen Wirtschaftskrise ist auf dem Notgeld von 1923 seine Unterschrift zu finden. Was den Stadtarchivar besonders beeindruckt: Familie Urias legte schon damals größten Wert auf Soziales, Kultur und vor allem Bildung. „Man muss sich überlegen, was das für die damalige Zeit heißt. Alle Kinder, auch die Mädchen, hatten den höchst möglichen Schulabschluss“, sagt der Stadtarchivar mit großem Respekt. Und dann zieht er Parallelen zur heutigen Zeit.

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Interessiert schaut sich die Französin Catherine Urias im Archiv der Stadt um, in der ihre Familie große Bedeutung hatte.
Interessiert schaut sich die Französin Catherine Urias im Archiv der Stadt um, in der ihre Familie große Bedeutung hatte. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

„Dann, mit dem Aufkeimen des rechten Gedankenguts, fingen die Nazis an, die komplett integrierte, jüdische Familie fertig zu machen. Das Geschäft wurde geplündert, ihnen blieb nur noch die Flucht. Man kann nur sehr aufmerksam sein, was die politischen Strömungen in der heutigen Zeit betrifft“, mahnt Weiß.

Über das Kaufhaus Urias

Das Kaufhaus Urias war im ausgehenden 19. Jahrhundert in Hattingen das größte am Platz. Inhaber waren Jacob Urias (1762-1844), Salomon Urias (1819-1890), Jakob Urias (1848-1924) und Josef Urias, geboren 1879. Das Haus am Steinhagen 20/22 hatte insgesamt vier Etagen.

Mit der beginnenden Entwicklung Hattingens nahm auch der Umfang des Geschäfts zu. Es gab „beste Waren zu billigsten Preisen“. Kaufen konnten die Bürger „sämtliche Webwaren in Baumwolle, Wolle und Seide und fertige Leib-, Bett- und Tischwäsche.“ Außerdem gab’s Strümpfe, Handschuhe Trikotagen und Herrenartikel, Berufsbekleidung, Kurzwaren und Mode.

Und dann holt die eloquente Französin einige Schätze aus ihrer Tasche, die sie unbedingt zeigen möchte: Es ist Kunst, die ihre Großtante Emmy Roth, die international berühmte und geschätzte Silberschmiedin aus Hattingen, für die Familie angefertigt hat. Elegante Ohrringe und ein Medaillon, das man an eine Halskette hängen kann, hält die zierliche Dame in den Händen.

„Nein, Wut, Groll, Ressentiments hat unsere Familie nie gehabt“

Die Künstlerin wurde am 12. Mai 1885 in Hattingen als Emmy Urias geboren. Sie genoss in ihrer Heimatstadt eine ganz normale Kindheit in einer bürgerlichen Familie. Aber auch sie musste schließlich aus Deutschland vor den Nazis fliehen. Die Großtante von Catherine Urias starb am 11. Juli 1942 in Tel Aviv.

Beeindruckend, was die 70-Jährige zur eigenen Familiengeschichte zu sagen hat. „Nein, Wut, Groll, Ressentiments hat unsere Familie nie gehabt. Das liegt nicht in unseren Genen“, betont sie mehrfach. Sie will Botschafterin sein, Geschichte wach halten, zeigen, wie Stimmung in der Gesellschaft kippen kann. Sie will aufrütteln, sensibilisieren. Das alles liegt auch dem Stadtarchivar am Herzen. Deshalb ist der Besuch von Catherine Urias in Hattingen so wichtig.

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