Hattingen. Afghanistan gehe „zurück in die Steinzeit“, sagt Ali Hassanpoor (34). Als Jugendlicher ist er aus dem Land geflüchtet, 2014 kam er nach Hattingen.

„Traurig“ ist er, findet das, was in diesen Tagen in Afghanistan passiert, „unfassbar“. So viel Hilfe und Unterstützung habe sein früheres Heimatland erhalten, um für die Menschen dort ein friedliches und modernes Leben möglich werden zu lassen. „Doch alles war umsonst.“ Mit der Machtübernahme der Taliban, sagt Ali Hassanpoor, gehe Afghanistan „zurück in die Steinzeit“.

Schon lange ist der 34-Jährige, der vor sieben Jahren nach Hattingen gekommen ist, nicht mehr in seinem früheren Heimatland gewesen. Als er selbst etwa 17 Jahre alt war, floh die Familie aus Afghanistan in den Iran. Zum zweiten Mal.

Nur bruchstückhaft erinnere er sich an die Flucht

Nur bruchstückhaft erinnere er sich an diese Flucht, sagt Ali Hassanpoor, bei der ersten in den 1990er-Jahren sei er selbst noch ein Kleinkind gewesen; wie jetzt wieder, so haben auch damals im Land die radikal-islamistischen Taliban geherrscht. Doch weil seinen Vater die Sehnsucht nach seiner Heimat niemals losgelassen habe, sei die Familie nach etlichen Jahren noch einmal nach Ghazni, ein rund 150 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entferntes Städtchen in Zentralafghanistan, zurückgekehrt, wo der Vater einst ein Stück Land bewirtschafte hatte.

Stets bedroht gefühlt in Afghanistan

Doch habe sich seine Familie stets bedroht gefühlt in Afghanistan, „wir sind Hazara, eine ethnische Minderheit“: Die erneute Flucht sei die einzige Option gewesen, um sicher leben zu können, zumal als auch der Vater einmal von einem Taliban-Kämpfer angeschossen worden sei.

Der afghanische Flüchtling Ali Hassanpoor kurz nach dem Start seiner Ausbildung zum Orthopädietechniker im Sanitätshaus Szabo – hier bei der Montage einer Fußprothese.
Der afghanische Flüchtling Ali Hassanpoor kurz nach dem Start seiner Ausbildung zum Orthopädietechniker im Sanitätshaus Szabo – hier bei der Montage einer Fußprothese. © FUNKE Foto Services | Volker Speckenwirth

Ali Hassanpoor sagt, er sei „sehr dankbar“ dafür, dass er heute in Deutschland lebt, „für mich ist es hier ein ganz wunderbares Leben“. In Deutschland gebe es Meinungsfreiheit, für alle geltende Menschenrechte. Er selbst hat hier eine Ausbildung um Orthopädietechniker absolviert, arbeitet bei der Firma Szabo in Velbert, strebt seinen Meister an. „Ich habe hier eine Zukunft.“

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Warum seine ehemaligen Landsleute ihre Zukunft jetzt so schnell aufgegeben haben, nicht für die Freiheit, für die Menschenrechte aller gekämpft haben? Darüber, sagt Ali Hassanpoor, habe er hier mit vielen Freunden und dem Bruder diskutiert.

Ein großes Problem ist in Afghanistan die Korruption

„Ich denke, ein großes Problem ist in Afghanistan die Korruption. Die westlichen Länder haben an politisch wichtigen Stellen nicht auf die richtigen Leute gesetzt.“ Das sei seine persönliche Einschätzung angesichts von Nachrichten des erst seit Juni im Amt gewesenen und kürzlich wieder entlassenen Stabschefs der Armee, Generalleutnant Wali Mohammad Ahmadzai, in dessen Zeit sich ein Großteil des regulären Militärs Afghanistans den Taliban ergeben hat. Und angesichts des jüngst .aus dem Land geflohenem Präsidenten Ashraf Ghani. „Der Einsatz des Westens in Afghanistan“, sagt Ali Hassanpoor, „ist gescheitert.“

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Dass die Taliban in seiner früheren Heimat künftig moderat regieren werden, daran glaubt er nicht. Nachrichten wie die, dass die neuen Machtinhaber die Herausgabe 15-jähriger Mädchen gefordert haben, unterstrichen ja deutlich, wie sehr die Taliban den Gesetzen der Scharia folgen. Dass seine Mutter und die zwei Schwestern zusammen mit dem jüngsten Bruder im Iran leben - „in Sicherheit“, stellt er daher umso erleichterter fest. Ebenso, dass er selbst keine Verwandten mehr in Afghanistan hat, um die er sich persönlich sorgen müsste.

Die Fraktion schreibt offenen Brief an den Bürgermeister

„Die erwartbare Situation in Afghanistan kommt einem Totalversagen gleich“, sagt Martin Wagner, Fraktionsvorsitzender von „Die Fraktion“. In einem offenen Brief fordert er Hattingens Bürgermeister Dirk Glaser auf, „sich sofort auf Bundesebene für die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan stark zu machen“.

Das zögerliche Handeln der Bundesregierung sei “beschämend“, schreibt Wagner. Und weiter; „Als Kommune sind die Optionen der Politik begrenzt, doch auch Hattingen muss unverzüglich deutlich machen, dass wir Platz für Menschen aus Afghanistan haben. Die Herrschaft der Taliban gibt keine Sicherheit vor allem für Frauen, queere und trans Personen, aber auch Künstler*innen, Journalist*innen, Dolmetscher*innen und viele weitere Menschen sind in großer Gefahr. Hattingen ist gerade im Bereich Vielfalt vorne mit dabei und auch unser Bürgermeister hat in der Vergangenheit bekräftigt, dass wir Platz haben. Darauf müssen jetzt Taten folgen.“

Hoffnung? „Nun gibt es keine mehr“

Und doch treiben Ali Hassanpoor die aktuellen Entwicklungen in seiner früheren Heimat um: Er würde gern Spenden sammeln, versuchen, denen zu helfen, die nun, „da es keinen Rechtsstaat mehr in Afghanistan gibt“, massiv bedroht sind. Doch so recht weiß er nicht wie. Lange Jahre, sagt er und es klingt verzweifelt, „habe ich gehofft, dass es langsam aufwärts geht mit Afghanistan, es gab Hoffnung. Aber nun gibt es keine mehr.“