Hattingen. . Rita Sieberg-Karwatzki protestierte mit einem Hungerstreik gegen das Hütten-Aus. Als sinnlos sieht sie die Aktion trotz der Schließung nicht an.

  • Bundespräsidenten Walter Scheel sollte auf Sorgen der Hüttenfrauen aufmerksam werden
  • Enttäuschung darüber, dass er sich im Camp der Hungernden nicht blicken ließ
  • Ersatzarbeitsstellen und neuen Sozialplan sieht Rita Sieberg-Karwatzki als Erfolg

Mit einer drastischen Protestaktion brachten sich elf Mitglieder der Fraueninitiative der Hütte im Juni 1987 in die Schlagzeilen: Sie hungerten für die Zukunft ihrer Familien, für jedermann unübersehbar campierten sie dabei in einem Zelt vor dem Haupteingang der Henrichshütte. Darunter auch die damals 31-jährige Rita Sieberg-Karwatzki, deren Mann auf der Hütte als Elektriker arbeitete.

Hauptziel dieser Aktion sei es gewesen, den ehemaligen Bundespräsidenten Walter Scheel auf die Sorgen der Hüttenfrauen aufmerksam zu machen, erinnert sich die Hattingerin zurück an jene Tage, in denen sie zum ersten und bis heute einzigen Mal in ihrem Leben fastete.

Frauen ernährten sich nur von Tee und Mineralwasser

Scheel war damals neutraler Vorsitzender im Aufsichtsrat der Thyssen Stahl AG. Mit seiner Stimme beschlossen die Anteilseigner am 23. Juni 1987 die Stilllegungsmaßnahmen auf der Henrichshütte – fünf Tage lang hatten die Hungerstreikenden bis dahin vergeblich gegen diese Entscheidung angekämpft, sich nur von Tee und Mineralwasser ernährt (lediglich eine Teilnehmerin brach auf ärztliches Anraten vorzeitig ab).

„Walter Scheel“, sagt Rita Sieberg-Karwatzki, „hat uns in unserem Zelt weder besucht, noch hat es je eine Rückmeldung von ihm an uns gegeben. Das war schon enttäuschend, dass wir als von der Hüttenschließung unmittelbar Betroffene ihm anscheinend so unwichtig waren…“

Ans Aufgeben haben die Hüttenfrauen nie gedacht

Ans Aufgeben haben die Hüttenfrauen gleichwohl nie gedacht. Sie fühlten sich durch den vielen positiven Zuspruch bestärkt in ihrer Entscheidung für dieses drastische Zeichen (das im Vorfeld keineswegs in jeder Familie befürwortet worden war). So gab es Blumensträuße, Interesse von Hüttenarbeitern und Passanten. Rita Sieberg-Karwatzki erinnert sich an Besuche mehrerer TV-Teams und an Solidaritätsadressen, darunter ein Telegramm der Theologin Uta Ranke-Heinemann. „Ich glaube, die Not und die Ängste angesichts des drohenden Aus‘ der Hütte sind durch unseren Hungerstreik einer breiten Masse noch deutlicher geworden.“

Trotzdem war die Schließung nicht mehr aufzuhalten, der Hungerstreik so gesehen vergeblich. Als verloren sieht Rita Sieberg-Karwatzki den Kampf um die Hütte dennoch nicht an. „Erreicht haben wir Ersatzarbeitsstellen und einen neuen Sozialplan.“ Zudem habe der gemeinsame Widerstand beim Hungerstreik und bei anderen Protestaktionen die Hüttenfrauen gestärkt. „Der Kampf um die Hütte hat Kraft gegeben, viele Frauen haben gemerkt: Wir können etwas bewirken.“

Protest half, den Kopf nicht hängen zu lassen

Dies habe allen nicht zuletzt dabei geholfen, nach der Hüttenschließung den Kopf nicht hängen zu lassen, das weitere Leben selbst aktiv zu gestalten. So etwa ist eine Kranführerin auf der Hütte in ihren früheren Beruf als Buchhändlerin zurückgekehrt, eine andere Hüttenfrau hat eine Gaststätte aufgemacht.

Und Rita Sieberg-Karwatzki, die nach der Zeit des Hüttenkampfes zunächst in einer integrativen Kindertagesstätte arbeitete, ist inzwischen selbstständig und hat ihren Traum von einer eigenen Hundeschule verwirklicht. Was die Henrichshütte betrifft, so sind die Erlebnisse und Emotionen von einst in diesen Tagen wieder sehr präsent. Aber Rita Sieberg-Karwatzki gefällt sehr, was aus dem einstigen Industrie-Standort geworden ist. Vor 30 Jahren hatte nicht nur sie sich das alles noch ganz anders vorgestellt.

Fraueninitiative gegründet

Am 19. Februar 1987 teilt Thyssen das Aus für die Henrichshütte mit: Die beiden Hochöfen, die 4,2-Meter-Grobblechstraße, das Elektrostahlwerk und die Stranggießanlage sollen stillgelegt werden. 2904 Arbeitsplätze sind betroffen.

Die Fraueninitiative Henrichshütte in Hattingen: (v.l.) Christiane Waßermann, Gisela Maczey, Margret Tietz, Brigitte Zaum, Sylvia Zimmermann, Ilse Drewanz, Rita Sieberg-Karwatzki und Doris Schaardt.
Die Fraueninitiative Henrichshütte in Hattingen: (v.l.) Christiane Waßermann, Gisela Maczey, Margret Tietz, Brigitte Zaum, Sylvia Zimmermann, Ilse Drewanz, Rita Sieberg-Karwatzki und Doris Schaardt.

Die Fraueninitiative der Hütte gründet sich - am 26. Februar 1987. Wie die ganze Stadt, so will auch sie eine Stilllegung der Hütte nicht schweigend hinnehmen, organisiert viele Protestaktionen – aus Angst um die Zukunft, um die eigenen Arbeitsplätze oder die der Männer, um die Ausbildungsstellen der Kinder und davor, dass Hattingen eine Geisterstadt werden könnte.

Stilllegung mit Walter Scheels Stimme beschlossen

Mit dem am 19. Juni 1987 ­beginnenden Hungerstreik hoffen die Hüttenfrauen dabei, die fünf ­Tage später anstehende Entscheidung des Aufsichtsrates noch im Sinne eines Fortbestehens der Henrichshütte zu beeinflussen – vergeblich.

Am 23. Juni 1987, um 16.45 Uhr, beginnt die Stunde der Wut und Tränen: Der IG-Metall-Bevollmächtigte teilt mit, dass die Anteilseigner mit der Stimme des neutralen Vorsitzenden Walter Scheel, gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter, im Aufsichtsrat der Thyssen Stahl AG die Stilllegungsmaßnahmen beschlossen haben.