Gladbeck. . Ihre Kindheit verbrachte Renate Birke in Ostberlin. Kurz nach dem Mauerbau floh sie in den Westen, in den 1970er Jahren zog sie dann mit ihrer Familie nach Gladbeck und fand so im Ruhrgebiet eine neue Heimat. Der Mauerfall vor 25 Jahren war für sie ein ganz besonders emotionaler Moment.

Ihre Geschichte würde guten Stoff für einen Roman abgeben. Wie in jedem guten Buch spielt Liebe darin eine große Rolle, dazu eine Prise Drama und Gefahr – und die glückliche Wendung zum Happy End.

Renate Birke ist 73 Jahre alt und lebt heute in Gladbeck, in einer seniorengerechten Wohnung, in einer lebendigen Nachbarschaft. Familie spielt eine wichtige Rolle, der Sohn lebt in der Nähe, die Enkel, sogar Urenkel hat sie schon. Und wenn die fordern „Oma, erzähl“, dann sprudeln die Geschichten nur so.

1941 begann das Leben von Renate Birke in Ostberlin. Geboren im Krieg, wuchs sie auf mit drei älteren Geschwistern. „Mein Vater ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen“, erzählt sie. Statt in die sowjetisch besetzte Zone zog der Vater nach dem Krieg zu seinem Bruder nach Gladbeck. „Mein Onkel war bei der Polizei, er hatte damals eine Wohnung im Präsidium am Jovyplatz 6.“ Einmal habe sie den Vater besucht, 1955. Dann brach der Kontakt wieder ab.

Ihre Kindheit sei durchaus glücklich gewesen, erzählt sie, „ich habe gekriegt, was ich wollte.“ Das habe unter anderem auch daran gelegen, dass ihre Mutter den Unterhalt, den der Vater schickte, nicht, wie von der DDR-Regierung verlangt, eins zu eins von West- in Ostmark umtauschte, sondern an den Behörden vorbei schleuste und dann im Verhältnis eins zu sieben tauschte.

Ein geschickter Winkelzug, der allerdings aufflog. Die Mutter floh. „Sie musste ja weg, sonst hätten die sie eingesperrt.“ Renate blieb zurück im Prenzlauer Berg, kam bei Nachbarn unter, die sich rührend um die 15-Jährige kümmerten.

Die WAZ sucht Zeitzeugen

Am 9. November 1989 öffnete die DDR die Grenze zum Westen. Das Datum ist als Mauerfall in die deutsche Geschichte eingegangen.

Welche Erinnerungen verbinden Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit dem Mauerfall? Waren Sie vielleicht in Berlin? Haben Sie Verwandte wiedergefunden? Sind Sie vielleicht selbst aus der DDR in den Westen geflüchtet und haben in Gladbeck eine neue Heimat gefunden?

Die WAZ möchte Ihre Geschichten aufschreiben.

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„Mit 16 ging ich in die Tanzschule“, erinnert sie sich, „da habe ich meinen ersten Mann kennengelernt.“ Der lebte im Wedding, im Westen der Stadt. Noch konnten die Menschen sich zwischen Ost und West bewegen. Die Schwiegereltern in spe nahmen Renate mit offenen Armen auf, „die haben mich schon zu DDR-Zeiten mit in den Urlaub nach Spanien und Italien genommen.“ Allein: Die schönen Strände, die fremden Welten – davon durfte im Osten niemand wissen. Da sei sie fast geplatzt, sagt sie lachend.

Zu den Pflegeeltern in den Osten

Später, August 1961. „An diesem Wochenende, als die anfingen, die Mauer zu bauen, habe ich in Westberlin bei meinem Freund übernachtet.“ Beim Spaziergang hätten sie die Arbeiter gesehen, im Radio gehört, da werde eine Mauer gebaut. Den Pflegeeltern zuliebe sei sie zurückgegangen. Den Freund sah sie nun nur noch aus der Entfernung, „meine Freundin und ich sind viel an der Bernauer Straße spazieren gegangen.“ Einmal wären sie fast festgenommen worden – hätte der Schutzmann nicht ein Auge zugedrückt. Private Nachrichten überbrachte ein Bekannter, der einen Passierschein hatte.

Zehn Monate hielt sie es aus hinter der Mauer. Drüben wartete der Liebste und organisierte zusammen mit seinen Eltern Renates Flucht. Eines Abends sei ein Mann gekommen. „In zwei Tagen geht’s los“, habe es geheißen, nur ein paar Sachen habe sie packen dürfen.

Schleuser kostete 550 DM

Nachts um zwei Uhr traf sie den Schleuser bei Bekannten, als Liebespaar getarnt liefen sie zu einem Auto. „Da bin ich durch den Kofferraum in den Mercedes rein, da war so eine Röhre.“ Gut, dass sie zart gebaut war, „ich wog nur 99 Pfund.“ Am Checkpoint Charlie ging es über die Grenze. 5500 DM bekam der Schleuser – eine Menge Geld.

Endlich vereint, heiratete das Paar, bekam einen Sohn, fand eine Wohnung in Neukölln, Harzer Straße – mit Blick auf die Mauer. „Ich will hier nicht bleiben“, habe sie gedacht. Und so sei die Entscheidung nicht schwer gefallen, in das geerbte Haus am Rosenhügel zu ziehen, das ihr Vater nach seinem Tode hinterließ. „Die erste Zeit war schlimm“, erzählt Renate Birke, doch in der Nachbarschaft fand sie schnell Freunde. „Wir haben uns das schön gemacht.“

Als die Mauer fiel, fuhr Renate Birke sofort nach Berlin 

Seit 1972 lebt Renate Birke in Gladbeck. Zusammen mit Mann, Sohn und Schwiegervater zog sie auf den Rosenhügel. Die Ehe ging auseinander, später fand sie eine neue Liebe. „Eigentlich habe ich immer Glück gehabt“, sagt die 73-Jährige.

Obwohl sie im Ruhrgebiet heimisch geworden ist, hat sie ihre Herkunft nie vergessen. 1972 gab es in der DDR eine große Amnestie, die auch mit sich gebracht habe, dass einige Flüchtlinge wieder zu Besuch in den Osten reisen durften. „Mich hat es rübergezogen.“

Zu Besuch in der DDR

Dazu machte sie extra den Führerschein, um dann 1974 mit dem Auto nach Ostberlin zu fahren. „Da ging das Herz“, erinnert sie sich lächelnd. Trotz der Besuche sei der Kontakt zu den Geschwistern abgerissen – zu unterschiedlich waren die Lebensumstände ist Ost und West.

An den 10. November 1989 kann sie sich gut erinnern. Erst an diesem Tag erfuhr sie, dass in Berlin die Grenze offen war. „Da stand ich im Laden, und um 9 Uhr kamen die Nachrichten, mir sind die Tränen gekullert.“ Damals arbeitete sie als Verkäuferin und nahm sofort Urlaub, um in Berlin dabei zu sein.

Als erstes besuchte sie ihre alte Freundin, klingelte einfach an. „Wir haben uns gesehen, und alles war wie früher. Unsere Freundschaft hat so lange geruht, weil sie keine Westkontakte haben durfte“, erzählt Renate Birke. Die Freundschaft hält, zwei-, dreimal pro Jahr reist die Gladbeckerin in die alte Heimat, Berliner Luft schnuppern. Zurück habe sie jedoch nie gewollt. Die engen sozialen Bindungen, die sie in Gladbeck so genießt, die Nachbarschaft, das Vereinsleben, all das sei in der Metropole Berlin nicht üblich. Und noch etwas spricht für den Westen: „Im Prenzlauer Berg sind die Wohnungen so teuer geworden, die kann man nicht mehr bezahlen.“