Gladbeck. Beim „Crash Test NRW“ berichteten Einsatzkräfte von ihrer schweren Arbeit als Ersthelfer an Unfallstätten. Rund 250 Schüler hörten gebannt zu.
Zum Anfang eine Triggerwarnung: Wer selbst einmal in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt war, oder Menschen aus dem persönlichen Umfeld kennt, die betroffen waren, der solle bitte den Saal verlassen. Man wolle schließlich niemanden retraumatisieren, erklärt die moderierende Polizeibeamtin zu Beginn der Veranstaltung in der Gladbecker Mathias-Jakobs-Stadthalle. Wem im Verlauf der folgenden 90 Minuten mulmig werde, könne sich auch direkt an eine der fünf anwesenden Notfallseelsorgerinnen wenden.
Der „Crash Kurs NRW“, zu dem das Polizeipräsidium Recklinghausen am Mittwochmorgen rund 250 Gladbecker Schülerinnen und Schüler der zehnten Jahrgangsstufe eingeladen hatte, macht gleich im Untertitel klar, warum psychologische Hilfe vor Ort angebracht sein könnte. Sollte die versammelte Schülerschaft hier doch: „Realität erfahren. Echt hart.“ Eine gewisse Schockwirkung gehört also durchaus zum Programm. Das Ziel: Die künftigen Fahranfänger für Gefahren im Straßenverkehr sensibilisieren. Ungefähr so, wie die EU das beim Thema Rauchen seit Jahren mit Schockbildern und schwarz gerahmten Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln versucht.
Unfall bei Billerbeck: Taxigeld gespart, mit dem Leben bezahlt
Einer der Redner ist Karl-Heinz Henn, ehemaliger Polizeidirektor mit 44 Jahren Berufserfahrung. Groß, kräftig und mit ernster Miene betritt er die Bühne, streift sich langsam eine der vier bereitliegenden gelben Westen über. Im Saal herrscht absolute Stille, als er von einem schweren Verkehrsunfall zu berichten beginnt, der sich im Dezember 2007 bei Billerbeck ereignet hat.
Vier junge Männer wollten auf dem Heimweg von der Disco in Coesfeld Geld sparen, entschieden sich in letzter Minute gegen das schon herangewunkene Taxi und stiegen stattdessen in den Opel Corsa eines Bekannten. Zu viert auf die Rücksitzbank. Bis ins heimische Billerbeck waren es ja nur acht Kilometer. Auf nasser Fahrbahn bei überhöhter Geschwindigkeit und – wie sich später herausstellte – mit Alkohol im Blut verlor der Fahrer auf einer Landstraße dann die Kontrolle über den Wagen. Von den sechs Insassen überlebten nur zwei, schwerstverletzt. Einer von ihnen war Fabian, der seine Erinnerungen an jene fatale Dezembernacht in einem Einspieler schildert.
„Dieses eine Leben sollte euch mehr wert sein als diese scheiß acht Euro fürs Taxi.“
Das Bild, das sich bei Polizeidirektor a.D. Karl-Heinz Henn eingebrannt hat: Wie seine Kollegen kurz nach Eintreffen auf dem regendurchnässten Acker, knietief im Dreck stehend, im Taschenlampenlicht versuchten, erste Hilfe zu leisten. Welche immensen Kräfte auf die Insassen gewirkt haben müssen, wird anhand der gezeigten Unfallbilder sofort deutlich. Vom Opel Corsa war nach dem Crash nicht mehr viel übrig geblieben. Mit gewaltiger Wucht durchschlug der Wagen zuerst einen Alleebaum und blieb dann 40 Meter weiter auf dem Acker liegen. Ohne Motor. Der wurde noch einmal 30 Meter weiter geschleudert.
Lesen Sie auch
- Gladbeck: Zoll erwischt Chinesin im Massagesalon
- Unfall auf der A2 bei Gladbeck beschert Pendlern langen Stau
- Einbrecher in Gladbeck: Unbekannte kamen über den Balkon
- Unfall an Gladbecker A2-Auffahrt: eine Schwerverletzte (32)
Dass Fabian diesen Horrorunfall schwerstverletzt überlebt hat, so Henn, habe er seinem Freund Jan zu verdanken. Der hat auf Fabians Schoß gesessen und dessen Aufprall erheblich abgemildert; für Jan kam jede Hilfe zu spät. „Ihr habt nur dieses eine Leben“, mahnt Henn. „Und dieses eine Leben sollte euch mehr wert sein als diese scheiß acht Euro fürs Taxi.“
Unfallstatistik NRW
2022 wurden laut Polizei 406.671 Verkehrsunfälle in Nordrhein-Westfalen gezählt.
430 Unfallteilnehmer verunglückten in diesem Jahr tödlich, 11.166 überlebten schwerverletzt.
Die meisten Unfälle werden von Fahrerinnen und Fahrern im Alter zwischen 17 und 25 Jahren verursacht. Die machen rund acht Prozent der Bevölkerung aus, sind aber an 20 Prozent aller Unfälle beteiligt. Jährlich sterben in NRW rund 100 von ihnen bei Verkehrsunfällen.
Die Veranstaltungsreihe „Crash Test NRW“ wurde vom Polizeipräsidium Recklinghausen nach britischem Vorbild entwickelt. Pro Schuljahr würden rund 8000 Schülerinnen und Schüler bei 37 Veranstaltungen erreicht.
Ein Schüler fällt während der Veranstaltung in Ohnmacht
Das hat gesessen. Mag es an der ernsten Thematik liegen, oder daran, dass zwei Polizeibeamtinnen links und rechts stets ein wachsames Auge auf die Schülerschaft hatten: Während der gesamten 90 Minuten, in denen noch drei weitere Unfallberichte von Rettungskräften und einem Notfallseelsorger folgten, schienen die Zehntklässler durchweg aufmerksam zugehört zu haben.
„Es war echt krass, das zu sehen“, sagt die 16-jährige Teresa von der Anne-Frank-Realschule danach. Was ihr besonders in Erinnerung bleiben werde? „Dass man nicht einfach so bei jemandem ins Auto steigen sollte.“ „Und wie wertvoll das Leben ist“, sagt Ayrie, 17, die gerade dabei ist, ihren Führerschein zu machen. Die beiden Schülersprecherinnen ziehen ein durchweg positives Fazit: Sie glauben, dass auch ihre Mitschüler von den drastischen Bildern und Schilderungen der Einsatzkräfte erreicht wurden.
+++ Folgen Sie der WAZ Gladbeck auch auf Facebook! +++
Einer klappte während der Veranstaltung zusammen. Der just vom Rednerpult getretene Notarzt kümmerte sich umgehend um den jungen Mann, der kurze Zeit später wieder auf den Beinen war. Womöglich ging ihm der „Crash Kurs“ zu nah. Die Unfallrealität auf deutschen Straßen ist eben: „Echt hart.“