Gladbeck. Gladbecker Kindergärtnerin schreibt Brief an Familienministerin Giffey. Sie kritisiert widersprüchliche Aussagen der Corona-Kita-Studie.
Geärgert hat sich Anna Pint über die auch in der WAZ berichteten jüngsten Aussagen der Bundesregierung zu einem möglichen Corona-Lockdown: „Die Kitas schließen zuletzt.“ Dies sei der Anlass für sie gewesen, sagt die Leiterin eines Kindergartens in Gladbeck, ihrem schon lange angestauten Ärger auch „zu einigen widersprüchlichen Aussagen“ Luft zu machen. Die 38-jährige Pädagogin verfasste eine mehr als zwei DIN-A4-Seiten lange Stellungnahme, die sie an Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sandte, „um aus Sicht einer Kita-Leitung darzustellen, wie es tatsächlich in der Praxis läuft und mit welchen täglichen Herausforderungen wir zu kämpfen haben“.
Die von den Kita-Teams in der schwierigen Corona-Lage geleistete Arbeit stehe auch viel weniger im Fokus von Öffentlichkeit und Politik als die von Pflege- und Krankenhauspersonal. Deren Arbeit sei öffentlich beklatscht, finanzielle Bonuszahlungen seien zugesagt worden, „aber von uns in den Kindertageseinrichtungen war gar nicht bis kaum die Rede. Wir waren es, die vielen Familien ein halbwegs normales Leben ermöglicht haben, ohne dass diese Familien Angst haben mussten, ihre Arbeit zu verlieren“, sagt Anna Pint. Welche Kita sie leitet, soll nicht in der Zeitung stehen. Denn der Träger der Einrichtung wisse zwar Bescheid, sie wolle aber als Privatperson sprechen.
Die Kita ist seit Ausbruch der Corona-Pandemie ständig geöffnet
„Wie soll unsere Arbeit auch gewürdigt werden“, fährt sie im Gespräch mit der WAZ fort, „wenn Minister laut ihrer Aussagen offensichtlich bis heute der Ansicht sind, dass Kindertageseinrichtungen während der ersten Corona-Welle geschlossen waren“. Viele Einrichtungen, darunter ihre, seien permanent, seit Ausbruch der Pandemie, geöffnet geblieben. Ihr Team habe dabei am Limit mit großer Erschöpfung gearbeitet, da coronabedingt auch Teile des Personals ausgefallen seien. „Bis zu den Sommerferien haben wir nur mit einem Drittel des Personals gearbeitet, obwohl da schon alle 65 Kinder wieder die Einrichtung besuchen konnten.“ An kontinuierliche pädagogische Arbeit sei da nicht zu denken gewesen. „Die reine Betreuung hat alle Kräfte gebunden, da ja auch Kleinkinder ab zwei Jahren versorgt werden müssen.“
Das Team sei mittlerweile wieder vollzählig, da auch zum Risikokreis zählende Kolleginnen bereit seien zu arbeiten, „dies allerdings aufgrund der sich zuspitzenden Infektionslage mit großer Sorge“. Um sich und andere zu schützen, trage das Team jetzt durchweg einen Mundschutz. Die pädagogische Arbeit in der Kita starte in Zeiten von Corona jeden Tag mit neuen Herausforderungen und Fragen. Wie ist die aktuelle Situation? Sind alle Kinder und Mitarbeiter gesund? Gibt es neu zu beachtende Verordnungen und Anweisungen? Wie informieren wir gegebenenfalls möglichst schnell alle Familien?
Von Seiten der Politik eine klarere Linie in der Corona-Studie gewünscht
Von Seiten der Politik wünsche sie sich eine deutlichere klare Linie „statt offensichtlich widersprüchlicher Aussagen“, die wenig hilfreich seien. Anna Pint spricht die Mitte des Monats öffentlichkeitswirksam von Familienministerin Giffey und Gesundheitsminister Jens Spahn vorgestellte Corona-Kita-Studie und die dazu verfasste Broschüre „Kitas in Zeiten der Corona-Pandemie – Praxistipps für die Kindertagesbetreuung im Regelbetrieb“ an. Diese Handreichung sei für sie „reine Geldverschwendung und ohne jeglichen Nährwert“. Denn einerseits wolle die Studie mit der Aussage beruhigen, „dass Kindertageseinrichtungen keine Infektionsherde und Kinder keine Infektionstreiber in Sachen Corona-Virus sind“. Andererseits stehe darin aber auch, „dass dies noch nicht ausreichend erforscht ist, diese Aussagen also Spekulation sind“.
Unterschiedliche Ressourcen
Kita-Leiterin Anna Pint kritisiert auch die ständig wechselnden Handlungsanweisungen aus der Politik. Diese umzusetzen sei nicht immer leicht, da zu wenig berücksichtigt würde, dass di Kitas unterschiedlich groß und ausgestattet seien.
Dies betreffe zum Beispiel den Personalspiegel, die Möglichkeiten für ein Hygienekonzept, wenn nur ein Wasch- oder Toilettenbereich zur Verfügung stehen, oder die weiteren Räumlichkeiten der Kita, etwa von allen Gruppen gemeinsam genutzte Bereiche.
Somit könne es obgleich der allgemein gültigen Handlungsanweisungen aus der Politik vor Ort zu unterschiedlichen, praktikablen Entscheidungen innerhalb der Kitas kommen. Und das müsse dann den Familien erklärt werden, für die das nicht immer leicht zu verstehen sei.
Für sie sei es auch vom klaren Menschenverstand her nicht nachzuvollziehen, warum das offenbar „wohlerzogene Corona-Virus eine Ausnahme bei Kleinkindern machen sollte, so dass diese nicht infektiös sind“. Denn im Kita-Alltag sei ja zu beobachten, „dass die Kinder uns regelmäßig eine große Palette an Infektionskrankheiten wie Scharlach, Mandel- oder Lungenentzündung sowie Magen- und Darmerkrankungen in die Einrichtung bringen“. Ihr stelle sich aufgrund des gerade in Gladbeck hohen Inzidenzwertes die Frage, „wie die Kita-Betreuung weiter sicher gestellt werden kann, wenn das Personal schon bei einfachen Covid19-verdächtigen Symptomen die Kita meiden soll“?
Kitas sind wichtiger Teil des familienunterstützenden Systems
Das Recht auf Erziehung und Bildung sei ein wichtiges Grundrecht. Aber es müsse auch deutlich werden, so Anna Pint, „wie wichtig wir Kitas der Politik als Teil des familienunterstützenden Systems sind“. Mit den Fragen: „Wie weit müssen wir uns im Team mit täglicher Angst vor einer Infektion weiteren Belastungen und Gefährdungen hingeben? Was müssen Kindertageseinrichtungen in der derzeitigen Situation überhaupt leisten?“ Ob es schon eine Antwort des Familienministeriums auf ihr Schreiben gegeben habe? „Nein“, sagt Anna Pint, „von dort ist noch keinerlei Reaktion erfolgt.“