Gladbeck. Besorgte Gladbecker können sich in Bottrop oder Recklinghausen beraten lassen. Expertin nennt Alarmzeichen, die auf eine Radikalisierung deuten.

Das Präventionsprogramm des NRW-Innenministeriums „Wegweiser - gemeinsam gegen gewaltbereiten Salafismus“ hat jetzt eine feste Anlaufstelle im Vest. Ein Beratungsbüro ist in Recklinghausen Am Steintor 3 eröffnet worden. Ratsuchende Gladbecker können zudem die ebenfalls neue Beratungsstelle in der Nachbarstadt Bottrop, am Berliner Platz 6, aufsuchen. Das teilte Sozialwissenschaftlerin „Viviana“ jetzt dem Gladbecker Integrationsrat im Ratssaal mit. Die junge Frau ist für den Träger der Beratungsstellen, Re/init e.V., tätig, Sie teilt zum Selbstschutz ihren vollständigen (bzw. richtigen) Namen nicht mit.

„Man kann sich bei jeder Sorge an uns wenden, wenn man den Eindruck hat, dass jemand aus dem persönlichen Umfeld Gefahr läuft, sich zu radikalisieren“, so die Expertin. „Denn wir wollen im Präventionsprogramm Wegweiser den Einstieg von jungen Menschen in den extremistischen Salafismus verhindern und mit den Jugendlichen gemeinsam neue Perspektiven finden.“

Salafist Abu Dawud lebte unauffällig in Gladbeck

Der Gladbecker Salafist Michael N. schloss sich in Syrien dem IS an  und soll dort 2018 umgekommen sein.
Der Gladbecker Salafist Michael N. schloss sich in Syrien dem IS an und soll dort 2018 umgekommen sein. © Screenshot

Ob Salafisten in Gladbeck bekannt sind, wollte Süleyman Kosar, Vertreter der zumeist türkeistämmiger Migranten von der Liste ABI, wissen. „Wir dürfen das nicht im Detail bekannt geben“, so die knappe Antwort von Viviana zum auch hochpolitischen und sicherheitsrelevanten Thema. Sie präsentierte im Multimediavortrag aber bundes- wie landesweite Zahlen. Demnach leben 4,7 Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland, von denen 11.300 als Salafisten oder Salafistinnen bekannt sind.

In Nordrhein-Westfalen sind davon 3100 Personen erfasst, von denen 262 ausgereist sind, um sich möglicherweise dem Islamischen Staat anzuschließen, 79 Rückkehrer sind registriert. Radikalisiert haben sich meist jüngere Menschen im Alter von 14 bis 30 Jahren, „davon sind 18 Prozent weiblich mit weiter steigender Tendenz“, so Viviana.

Bei bundesweiter Razzia in Brauck aufgefallen

Dass radikale Salafisten aber zunächst unerkannt in direkter Nachbarschaft leben können, belegt der Fall von Michael N., der ab 1. Oktober 2011 zehn Monate in Gladbeck lebte und erst bei einer bundesweiten Razzia im Juni 2012 in Brauck auffiel. Kurz darauf reiste N. nach Ägypten aus, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen, wo er als „Abu Dawud“ in Propagandavideos 2014 auftrat und auf deutsch massive Drohungen gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie weitere Regierungschefs ausstieß, und zur Beteiligung am Djihad aufrief. Michael N. soll im August 2018 in Syrien ums Leben gekommen sein.

Offene Sprechstunden auch für anonyme Beratung

Das Wegweiser-Team bietet allgemeine Informationen auf seiner Homepage www.wegweiser-vest.de. Das Team ist telefonisch oder per WhatsApp unter 0179-420 61 91 zu erreichen; und per Email info@wegweiser-vest.de

Die Beratungsstellen bieten zu folgenden Zeiten offene Sprechstunden an: In Recklinghausen, Am Steintor 3, am Montag von 10-12 Uhr und Mittwoch von 16-18 Uhr. In Bottrop, Berliner Platz 6, am Freitag von 10-12 Uhr.

Dabei handele es sich um Jugendliche mit Identitätssuche, „mit einer rasanten Entwicklung bei Biodeutschen, die keine gebürtigen Moslems waren“, so Süleyman Kosar, denn viele Moscheegemeinden, auch in Gladbeck, arbeiteten aktiv daran und bemühten sich „Jugendlichen den rechten Weg zu zeigen“.

Die Annahme, dass gebürtige Muslime in Deutschland weniger anfällig für gewaltbereiten Salafismus sind, wiederlegte die Expertin aber mit Fakten: „93 Prozent der bekannten Salafisten haben eine Einwanderungsgeschichte und sieben Prozent sind Konvertiten, die den Islam angenommen haben.“ Es seien wahrscheinlich Jugendliche, „die sich nicht objektiv mit dem muslimischen Glauben beschäftigt haben und leicht von denen rekrutierbar sind, die den wahren Islam für sich gepachtet haben.“

Alarmzeichen frühzeitig erkennen

Es gebe Anzeichen, „die darauf hinweisen, dass ein junger Mensch Gefahr läuft, sich dem extremistischen Salafismus zuzuwenden“, sagt Viviana vom Wegweiser-Team. Bei Unsicherheit und Sorge kann die Beratungsstelle kostenlos kontaktiert werden.

Dabei könnten sich Ratsuchende vorab selbst folgende Fragen beantworten, die als Anzeichen möglicherweise eine ersten Radikalisierung widerspiegeln: „Verhält sich Ihr Kind, Schüler oder jemand im näheren Umfeld ungewöhnlich? Ist eine Veränderung des Aussehens (Kleidung, Frisur) zu beobachten? Werden Missionierungsversuche bei Eltern, Geschwistern, Freunden unternommen oder Vorschriften rechten Verhaltens gemacht? Wird die Gesellschaft streng in Gläubige und Ungläubige eingeteilt?“

Expertin rät von vorschnellen Überreaktionen ab

Die Expertin rät aber auch von vorschnellen Überreaktionen ab. „Das Verhalten könnte einfach auch jugendlich-pubertäre Provokation sein. Das weiter abzuklären, kann mit Hilfe und Unterstützung des Wegweiser-Teams erfolgen.

„Die Beratung erfolgt auf Wunsch auch anonym“, garantiert Viviana. Familien, Freunde wie Betroffene werden kostenlos und umfassend, wenn nötig auch über einen mehrjährigen Zeitraum, sensibel beraten und unterstützt. Für Fachkräfte oder an Schulen sind auch Infoveranstaltungen zum Thema möglich.