Gelsenkirchen. Hohe Arbeitslosenquote, viele freie Stellen. Selbst für leichte Jobs. Warum viele Menschen in Gelsenkirchen nicht in einen Job vermittelbar sind.

Unternehmen und staatliche Stellen ächzen unter dem anhaltenden Fachkräftemangel, seit Beginn der Corona-Pandemie ist daraus eine echte Klagewelle geworden. Selbst in Branchen, die keine mehrjährigen Ausbildungen voraussetzen, sondern Menschen suchen, die anpacken: Aktuell in den Sommerferien sind das Kofferträger, Sicherheitskontrolleure und Helfer an Flughäfen sowie natürlich Fahrer (auch Radler) für Lieferdienste, Lkw-Fahrer, Service-Kräfte für Restaurants und Kneipen, Pflegehelfer in Altenheimen, Gartenarbeiter, Verkäuferinnen und Verkäufer.

Hartz IV-Quote: 49.330 Menschen bekommen in Gelsenkirchen Regelleistungen

Gerüstbauer bei der Arbeit: Offene Stellen gibt es viele im Baugewerbe, die Firmen finden aber keine Mitarbeitenden, die solch einen Job machen möchten.
Gerüstbauer bei der Arbeit: Offene Stellen gibt es viele im Baugewerbe, die Firmen finden aber keine Mitarbeitenden, die solch einen Job machen möchten. © Unbekannt | Christian Charisius/ dpa

Man könnte daraus schließen: Angesichts der hohen Arbeitslosenquote in Gelsenkirchen und der zahllosen „Suche zuverlässige Arbeitskraft“-Gesuche an Laden- und Gaststätten-Türen müsste die Arbeitslosenzahl in Städten wie Gelsenkirchen doch bei nahezu „Null“ liegen. Tatsächlich aber ist die Zahl der Menschen, die als arbeitssuchend gemeldet sind, im Juni 2022 sogar noch gestiegen – um 530 Menschen (+3 Prozent) auf 18.188 (Arbeitslosenquote 13,8 Prozent).

Höchste Quote in Deutschland: Jeder Vierte in Gelsenkirchen bezieht Hartz IV

Gelsenkirchen hat mit 23,9 Prozent die höchste SGB II-/Hartz IV-Quote bundesweit, hier also ist fast jeder Vierte davon betroffen. In Zahlen: 49.330 Menschen (zwischen 15 und 65 Jahren) beziehen Regelleistungen in der Emscherstadt.

Das hängt nach Meinung von Arbeitsmarktexpertinnen und -experten wie Anke Schürmann-Rupp mit der „Komplexität der Lebenswirklichkeit von arbeitslosen Menschen und suchenden Betrieben zusammen“. Der schwerwiegendste Hinderungsgrund für eine Rückkehr in Lohn und Brot ist der Geschäftsführerin des Jobcenters zufolge dieser: Gelsenkirchen hat eine hohe Zahl von Arbeitslosen, die viele Jahre keine Berufstätigkeit mehr ausgeübt haben.

25.231 Menschen ohne Job in Gelsenkirchen gelten als marktfern – Mankos bei Pünktlichkeit, Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit

„Von den 33.789 erwerbsfähigen SGB-II-Beziehern gelten etwa 69 Prozent als marktfern“, führt Schürmann-Rupp weiter aus. 25.231 Menschen also, die die wesentlichen Grundanforderungen nicht (mehr) erfüllen. Ihnen fehlen die sogenannten „Soft Skills“ – „Pünktlichkeit, Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit“.

Sie verfügen darüber hinaus nur über ein „geringes Durchhaltevermögen oder über eine kaum ausreichende Belastbarkeit“. Und bei ihnen spielt das Gesundheitsbewusstsein eine eher untergeordnete Rolle, womit ein höheres Krankheitsrisiko besteht. Alles in allem Eigenschaften, die Arbeitgebende zurückschrecken lassen.

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Anke Schürmann-Rupp ist die Leiterin des Jobcenters in Gelsenkirchens. Sie appelliert an Arbeitgebende, Jobsuchenden eine zweite Chance zu geben. Insbesondere all jenen, die schon längere Zeit aus dem Erwerbsleben gefallen sind und sich nicht so schnell wieder an die neuen Strukturen im Berufsalltag gewöhnen können.
Anke Schürmann-Rupp ist die Leiterin des Jobcenters in Gelsenkirchens. Sie appelliert an Arbeitgebende, Jobsuchenden eine zweite Chance zu geben. Insbesondere all jenen, die schon längere Zeit aus dem Erwerbsleben gefallen sind und sich nicht so schnell wieder an die neuen Strukturen im Berufsalltag gewöhnen können. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Wenn Betriebe diese Langzeitarbeitslosen einstellen, erhalten sie sogar eine vollständige Lohnbezuschussung aus Steuergeldern und regelmäßiges Coaching (Teilhabechancengesetz). Daher appelliert die Geschäftsführerin des Jobcenters auch an Unternehmen und Betriebe, solchen Menschen Zeit und eine zweite Chance zu geben: „Denn es braucht eine Weile, bis sich Betroffene wieder an Strukturen gewöhnen und sie wieder verinnerlicht haben.“ Nicht selten fehlt es neben den Soft Skills an Zutrauen oder der Fähigkeit, wie man neben einem Beruf den Alltag organisiert. Dafür hatten sie ja zuvor den ganzen Tag Zeit.

Im Sommer 2019 waren es etwas mehr als 300 derartig geförderte Beschäftigungsverhältnisse, „aktuell sind es 805“, so Schürmann-Rupp. Gelsenkirchen sei demnach dem Ziel des Gelsenkirchener Appells mit 1000 Jobs im „Sozialen Arbeitsmarkt“ schon sehr nah.

Rund 2000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Gelsenkirchen – Anspruch auf Hartz IV

Einfluss auf die Hartz IV-Quote hat laut Jobcenter auch die russische Invasion in der Ukraine, die große Flüchtlingsströme in Richtung Westen nach sich zog sowie mehr Ausgaben für Städte wie Gelsenkirchen, denn seit dem 1. Juni erhalten Geflüchtete Leistungen nach SGB II. „Derzeit sind im Jobcenter 1664 Menschen aus der Ukraine gemeldet“, sagt Anke Schürmann-Rupp. 2082 Menschen sind es insgesamt laut Arbeitsagentur Gelsenkirchen. Die Differenz erklärt sich aus dem Verzug bei den Registrierungen und Antragformalitäten.

Eine Arbeitslosenzahl von null kann es ohnehin nicht geben, weil es den Experten zufolge immer eine gewisse Anzahl arbeitssuchender Menschen geben wird: Schulabgänger melden sich schon aus versicherungsrechtlichen Gründen arbeitslos, Auszubildende wechseln, Arbeitnehmer werden entlassen oder kündigen, suchen sich schnell einen neuen Job (Such-Arbeitslosigkeit). In der Corona-Krise wechselten beispielsweise viele Menschen aus Hotellerie und Gastronomie in andere Jobs.

Keine Lust auf Arbeit: Rund 1000 Härtefälle in Gelsenkirchen

Vollbeschäftigung meint also nicht die schwarze Null. Rein rechnerisch verwenden Volkswirte den Begriff schon bei einer Arbeitslosenquote von zwei bis drei Prozent. Das entspräche bei der aktuellen Bevölkerungszahl in Deutschland etwas mehr als einer Million Arbeitslosen. In Gelsenkirchen wären das 10.400 Menschen bei einer Einwohnerzahl von rund 260.000 Menschen.

Und: So mancher Arbeitslose will partout nicht und scheut die Anstrengung des Broterwerbs – die Quote liegt und lag in den vergangenen Jahren bei zwei bis drei Prozent – bei 33.789 erwerbsfähigen SGB-II-Beziehern sind das rund 1000 Härtefälle. Strafen aufgrund einer solchen Verweigerungshaltung müssen sie vorerst nicht mehr befürchten – bis Mitte 2023 sind Sanktionen weitgehend ausgesetzt.