Die Kindheit der Ilse Reifeisen endete 1938. Zwischen zwei Deportationen organisierten die Eltern die Emigration ihrer Tochter nach Schweden. Sie überlebte den Holocaust, die Eltern kamen im Ghetto um. Zur Erinnerung sind Briefe geblieben, die jetzt als Buch veröffentlicht wurden.

„Mit dem Buch wird etwas von der Familie zurückgegeben. So bleibt die Erinnerung erhalten.“ Es war ein bewegender Moment, als Elise Hallin, geboren als Ilse Reifeisen, im November in Stockholm das Buch „Mein liebes Ilsekind“ aus den Händen der Autorin und Herausgeberin Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel entgegennahm. Schließlich erzählt das Buch ein Stück Lebensgeschichte der Frau, die am Donnerstag 87 Jahre wurde, und es erinnert an ein ganz dunkles Kapitel deutscher Geschichte.

Das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten hat in dem Buch die Briefe veröffentlicht, die die Eltern von Elise Hallin ihrer nach Schweden emigrierten Tochter zwischen Dezember 1939 und Januar 1942 geschrieben haben. Dann wurden Eltern und Großmutter von Gelsenkirchen ins Ghetto Riga deportiert. Dort starben Vater und Großmutter, die Spur der Mutter verliert sich 1944 im KZ Stutthof. Die 180 Briefe und Postkarten der Eltern aus dieser Zeit hat die Überlebende mit rosa Seidenbändchen verschnürt und über 70 Jahren lang unberührt in einer Kiste aufbewahrt.

Überlebende des Holocaust 2008 über das Internet aufgespürt

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Erst 2008 kamen sie wieder ans Licht, als Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel, Mitglied im Vorstand des Jüdischen Museums, Elise Hallin als Überlebende des Holocaust über das Internet in Stockholm aufspürte. Da wurden in Dorsten gerade die letzten zwei Stolpersteine von Gunter Demnig verlegt, die an ihre Eltern erinnern. Nach und nach hat die heute 87-Jährige ihre Briefe dem Jüdischen Museum überlassen, das sie wieder lesbar gemacht, in einer Sonderausstellung gezeigt und jetzt als Buch veröffentlicht hat.

Die Ausstellung konnte auch Elise Hallin besuchen, als sie 2012, begleitet von ihrem Sohn, zum ersten Mal wieder in Deutschland war. Damals war sie auch am Grab ihres Großvaters Julius Spanier in Gelsenkirchen.

Die Eltern von Elise Hallin waren angesehene Kaufleute mit eigenem Mode-Geschäft. Vater Simon kam 1892 in einer Kleinstadt in Polen zur Welt, die heute zur Ukraine gehört. Seine Familie gehörte zu den Ostjuden und verließ ihre Heimat 1905. Seine Frau wuchs als Gertrud Spanier in Gelsenkirchen auf und stammte aus einer angesehenen jüdischen Familie. Geheiratet hat das Paar 1924 in Gelsenkirchen, gefeiert im Hotel Berliner Hof.

Die Familie wurde 1938 nach Polen abgeschoben

Schon 1923 hatte der Vater die Preußische Staatsangehörigkeit beantragt, seine Pläne aber offenbar nicht weiter verfolgt. So wurde die Familie 1938 als vermeintliche polnische Staatsbürger nach Polen abgeschoben. 1939 durfte Simon Reifeisen mit Frau und Tochter nach Dorsten zurückkehren, um die Übergabe seines Geschäftes abzuwickeln.

Danach zog die Familie ins Haus der Schwiegermutter Regine Spanier nach Gelsenkirchen an die Florastraße 84. Wenig später kamen Simon Reifeisen und viele andere Juden ins Gelsenkirchener Gefängnis.

Mit 13 Jahren alleine von zu Hause fort in die Fremde

Lange hatten die Eltern versucht, ihr Kind in Sicherheit zu bringen. Mit dem letzten Kindertransport kam sie schließlich nach Schweden. Sie war 13 Jahre, als sie im Gefängnis Abschied von ihrem Vater nahm und alleine in eine ungewisse Zukunft aufbrach.

Von da an gab es die Briefe der Eltern, die aus der Ferne versuchen, Einfluss auf ihre Tochter zu nehmen, ihr Anweisungen geben für Gesundheit und Kleidung und das Poussieren mit Jungs.

Erhalten geblieben sind auch die letzten Karten der Tochter, zurückgekommen mit dem Vermerk „Abgereist“.