Gelsenkirchen. Der Aufruf zum stillen Gedenken an die Neonazi-Opfer war scheinbar nicht überall angekommen. Im Döner-Imbiss etwa herrschte um 12 Uhr normaler Betrieb. Schüler und Beamte kehrten in sich.

13:00 zeigt der Fernseher im Döner-Grill „Bizimmangal“ an. Unter der Decke hängend versendet er laut dudelnd popmusikalische Grüße aus der Heimat in das Lokal am Heinrich-König-Platz. In der Türkei ist es eine Stunde später als in Deutschland. Die Armbanduhr verrät die mitteleuropäische Zeit: 12 Uhr. Der Mann am Nebentisch schweigt.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Deutschen Gewerkschaftsbundes hatte deutschlandweit für Donnerstagmittag zum Gedenken an die Opfer der Neonazi-Mordserie – die sogenannten „Dönermorde“ – aufgerufen. Auch die Stadt Gelsenkirchen und die hiesige Demokratische Initiative gegen Diskriminierung und Gewalt, für Menschenrechte und Demokratie hatten sich der Schweigeminute für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt angeschlossen.

Gäste wussten von Schweigeminute nichts

Nein, von einer Schweigeminute habe sie nichts gewusst, sagt Arzu Celik (34), die Besitzerin vom Bizimmangal. Und anscheinend auch niemand der Gäste, ein bunt gemischtes Publikum. Auch viele Deutsche sind dem Vernehmen nach darunter. Zwei junge Männer in Handwerkermontur bestellen um 12 Uhr einen Döner an der Theke, setzen sich, unterhalten sich. Ein paar Tische weiter kommunizieren zwei ältere Damen angeregt, lachen. Hier besinnt sich niemand. Und auch der Mann am Nebentisch schweigt nur deshalb, weil er Zeitung liest und zudem alleine ist.

„Ich finde, das ist zu wenig“, sagt Arzu Celik über das angedachte stille Gedenken an die Opfer der „Dönermorde“. „Da muss man mehr machen als nur eine Schweigeminute. Andere Aktionen fände ich da besser. Einen Schweigemarsch etwa, mit entsprechenden Plakaten.“ So eine Aktion würde eher in den Köpfen der Menschen hängen bleiben. Auch ihre Nichte Funda (25) ist nicht überzeugt: „Ich hoffe, dass es was bringt. Aber ich glaube eher nicht.“ tom

Vom normalen Grundrauschen einer Großstadt

Die Turmuhr der evangelischen Altstadtkirche schlägt 12 Uhr. Eine Frau bleibt wie angewurzelt stehen – und wartet doch nur auf ihre Bekannte, die gerade bei der Bank Geld zieht. Die meisten eilen über die Bahnhofstraße und schweigen, ohne zu wissen, dass bundesweit eine Schweigeminute ausgerufen wurde. Sie reden nicht, stieren beim Gehen auf den Boden und hören nichts, außer die laute Musik, die direkt in ihren Gehörgang wummert. Wer keine Kopfhörer auf den Ohren trägt, vernimmt das Grundrauschen einer Stadt zur Mittagszeit: Einen Feuerwehrwagen in der Ferne, Autos, Handytelefonate. Der Brotverkäufer, der mit seinem Wagen am Neumarkt steht, vertrödelt die Zeit bis zum nächsten Kunden. „Schweigeminute? Ne, da weiß ich nix von. Wofür soll die gut sein?“, fragt ein Passant kopfschüttelnd. Es ist 12.03 und die Schweigezeit offiziell vorbei. F.P.

Auf dem Bahnsteig gibt es keine Stille

F.P.Hauptbahnhof, Gleis 3 und 4. Der große Zeiger der Bahnhofsuhr springt auf Punkt 12 Uhr und es passiert – nichts! Die vier Teenager mit den Shoppingtüten neben mir unterhalten sich weiterhin auf Türkisch laut kichernd über ihre Modeschnäppchen, der dunkelhaarige Mann ein paar Schritte weiter spricht weiter ununterbrochen in sein Handy. Und ein stark alkoholisierter Mann schnorrt mich an, ob ich ein paar Euro für ihn hätte. Sein Ticket würde 8,60 Euro kosten, wie er das denn bezahlen solle? Als ich nicht sofort antworte (es heißt ja „Schweigeminute“ und es sind erst 35 Sekunden um) wird er laut und schreit mich an. Der Geräuschpegel ist laut wie immer, nur eine Durchsage, dass die S-Bahn nach Duisburg jetzt einfährt, gibt es nicht. Aber ob das so geplant war? Vielleicht wurde sie auch einfach vergessen. Und schon springt der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr auf 12.01 Uhr. . . boom

Schüler schwiegen berührt

„Die Schüler haben den Aufruf mit großer Ernsthaftigkeit befolgt und waren durchaus berührt von der Schweigeminute.“ Das ist das positive Fazit von Felizitas Reinert, Leiterin der Gesamtschule Ückendorf.

Diese Schule hat einen großen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund. „Ich habe die Schweigeminute nicht nur als Gedenken an die schrecklichen Morde verstanden, sondern als Symbol für die breite Akzeptanz von ausländischen Mitbürgern oder Deutschen mit Migrationshintergrund“, betont die Pädagogin. An ihrer Schule gab es Aushänge, die auf die Aktion aufmerksam gemacht haben: „Die allermeisten Schüler haben die Minute auch ganz ohne Störungen durchgehalten.“ Eine Gruppe habe sich sogar feierlich vor dem Klassenraum aufgestellt, eine andere Kollegin hat die rechtsradikalen Morde und Rassismus zum Unterrichtsthema gemacht.

Dagegen verzichtete die Hauptschule an der Emma-straße auf die Teilnahme an der Schweigeminute. Leiterin Ulrike Rupieper begründet das so: „Uns fehlte einfach die Zeit, um die Aktion vorzubereiten. Einfach so schweigen, das wollten wir nicht.“ eli

Stille mit Ansage im Rathaus

„Es ist 12 Uhr!“ Die Mitarbeiterin des Bürgercenters im Rathaus Buer muss ihre Kollegen nur kurz erinnern und schon beenden sie für eine Minute ihre Arbeit. Wo sonst gedämpfte Unterhaltung den Raum erfüllt, herrscht tiefes Schweigen. Auch die Bürger vor den Schreibtischen, die sonst eher ungeduldig auf die Erledigung ihres Anliegens warten, wissen sofort, was es mit der kurzen Pause auf sich hat. Auch sie sitzen ruhig auf ihren Stühlen und schweigen. Eine Frau hat sogar andächtig die Hände gefaltet. Rathausmitarbeiter, vor dessen Türen die Fahnen auf Halbmast gesetzt waren, wurden an die Gedenkminute erinnert. Stadtsprecher Martin Schulmann: „Wir haben ganz aktuell eine Meldung in das Verwaltungs-Intranet gesetzt und darum gebeten, dass sich jeder an dieser Aktion beteiligen möge.“

Während im historischen Rathaus für eine Minute tiefes Schweigen herrscht, verlässt ein Linienbus den gegenüber liegenden Busbahnhof. Zwei Züge der Bogestra bleiben dagegen an ihren Haltestellen stehen und verlassen mit einminütiger Verspätung den Knotenpunkt. P.M.