Gelsenkirchen. Europawahl im Fokus: Gelsenkirchen ringt mit Migration und ihren Folgen. CDU-Kandidat Dennis Radtke konfrontiert mit Glaubensverlust in Politik.

Im Hinblick auf die Europäische Union und die Europawahl am 9. Juni beschäftigt viele Menschen in Städten, die wie Gelsenkirchen besonders unter den Folgen der europäischen Südost-Erweiterung leiden, vor allem das Thema Migration mit all seinen Folgen für die Stadtgesellschaft. Dabei scheinen viele den Glauben in Politik und Staat verloren zu haben, die mannigfaltigen Probleme lösen zu können oder zu wollen, oder Herr Radtke?

„Ja, das ist nicht nur im Gelsenkirchen so. Neulich war ich in Duisburg und mir erzählten Deutsch-Türken, dass sie jetzt die AfD wählen, weil ihnen Bulgaren und Rumänen den Stadtteil wegnehmen würden. Die Probleme kann man nicht freundlich wegignorieren. Wir brauchen hier lokal und regional einen anderen Umgang mit diesem Thema.“

Dennis Radtke ist Mitglied des Europäischen Parlaments und kandidiert für die CDU im Ruhrgebiet erneut am 9. Juni.

Was meinen Sie mit „anderen Umgang“?

Radtke: Die Leute nehmen ja immer das geltende EU-Recht als Kern des Problems war. Ich sehe das nicht so. Die Niederlassungsfreiheit ist genauso wertvoll wie die Freiheit von Waren und Güterverkehr. Das ist ein hohes Gut. Aber die EU macht ja auch bewusst Einschränkungen zu dieser Niederlassungsfreiheit. Das heißt, ich habe drei Monate Zeit, entweder eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nachzuweisen, von der ich mich selbst und meine Familie ernähren kann, oder aber eine Selbstständigkeit nachzuweisen, die die gleichen Kriterien erfüllt.

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Dass es da Mittel und Wege gibt, das System auszutricksen, das wissen Sie doch, Herr Radtke.

Radtke: Ja. Gerade die Selbstständigkeit ist an vielen Stellen das Einfallstor, weil die Leute sich einen Gewerbeschein holen und sagen, ich bin Rosenverkäufer oder was auch immer. Und mit diesem Gewerbeschein beantragen sie Kindergeldleistungen, und da fangen die Probleme unter anderem an. Wir können die Gewerbescheine hier nicht verteilen wie Bonbons und hinterher kontrolliert keiner, ob denn da überhaupt tatsächlich ein Gewerbe existiert. Wir müssen dann die Möglichkeiten, die die EU eben auch einräumt, nutzen. Wenn die Kriterien nicht erfüllt werden, dann können die Leute in ihre Heimatländer abgeschoben werden und das muss auch gemacht werden. Das diskutieren wir ja auch im Zusammenhang mit dem Thema Flucht und Asyl, dass wir die Menschen, die kein Bleiberecht haben, zurückführen. Wenn wir das nicht tun, dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn sich die Akzeptanz für das große Ganze am Ende in Luft auflöst.

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Machen Sie es sich nicht etwas einfach, wenn Sie die Verantwortung auf die Kommunen schieben und schimpfen, dass hier nicht ausreichend kontrolliert wird?

Ich will mir das gar nicht einfach machen und ich will mich auch selbst gar nicht aus der Verantwortung stehlen. Aber die EU ist nicht dafür zuständig, Menschen aus Gelsenkirchen oder aus Duisburg nach Rumänien oder anderswohin abzuschieben. Für die Rechtsdurchsetzung sind eben andere zuständig. Ich sehe immer wieder, dass es beispielsweise in Duisburg einen bekannten Arbeiterstrich gibt, aber der Zoll dagegen nicht vorgeht oder dass in vielen Barbershops schwarzgearbeitet wird und es keinen Meister gibt, aber es offensichtlich keine oder nicht ausreichend Kontrollen gibt. Das sehen die Bürger doch auch und verlieren natürlich zunehmend das Vertrauen in den Staat. Da müssen die hiesigen Behörden viel konsequenter durchgreifen, das ist nicht Aufgabe der EU.

In Gelsenkirchen deckt das sogenannte Interventionsteam EU-Südost reihenweise Verstöße auf, aber das ist nur Spitze des Eisbergs, wie Ermittler selbst hinter vorgehaltener Hand zugeben. Haben Sie diese Folgen der Südosterweiterung nicht erwartet? Die Entscheidung, wer in die EU aufgenommen wird, fällen ja schließlich nicht die Kommunen, die jetzt mit den Konsequenzen zurechtkommen müssen.

Ich glaube, als die Entscheidung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder getroffen wurde, Rumänien und Bulgarien in die EU aufzunehmen, war sich jeder darüber im Klaren, dass die Kriterien, die an eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union angelegt werden, ganz sicher nicht vollumfänglich erfüllt waren – gerade was Themen wie Korruption und Korruptionsbekämpfung angeht. Es war eine strategische Entscheidung zu sagen, wir sehen über diese Defizite hinweg und zahlen einen Preis dafür, damit der russische Einfluss in diesen Ländern zurückgedrängt wird. Im Grunde haben wir jetzt die gleiche Diskussion wieder, wenn wir über die Balkanstaaten sprechen. Sollte Kosovo jetzt EU-Mitglied werden, ja oder nein? Diese Frage wird aufgeschoben und aufgeschoben. Und welche Konsequenzen hat das? Diese Staaten werden zu einer russischen, türkischen, chinesischen Einflusssphäre. Aber ich glaube, wenn ich jetzt um die Ecke in die Kneipe gehe und den Leuten erkläre, wir müssen jetzt eigentlich alles dafür tun, dass der Kosovo möglichst schnell Mitglied der Europäischen Union wird, dann werden die mich fragen, ob ich noch bei Sinnen wäre.

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Heißt unterm Strich?

Dass wir uns bemühen müssen, europäische Antworten auf diese Herausforderungen zu finden, dass geltendes Recht konsequent durchgesetzt wird. Wir brauchen ein starkes Europa, das unabhängig davon ist, wer gerade in den USA Präsident ist. Wir brauchen mehr gemeinsame Anstrengungen in der Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik, um uns und unsere Wirtschaft zu schützen und zu fördern. Letztlich ist die Europäische Union ein Segen für uns. Wir müssen weiter an ihr arbeiten und bei der Erweiterung aus möglicherweise in der Vergangenheit gemachten Fehlern lernen.