Gelsenkirchen-Bismarck. Freie Fahrt, das ist die Aufgabe der Gelsenkirchener Autobahnmeisterei. Aber: Die Wärter leben gefährlich. Einblicke vom Hochrisiko-Training.
Sekundenbruchteile entscheiden: Wer als Straßenwärter den Blick auf die vorbeirauschenden Lastwagen und Autos vergisst, dem drohen schwerste Verletzungen, im schlimmsten Fall der Tod. Um der tückischen Blechlawine auf Gelsenkirchens Straßen und Autobahnen zu entgehen, schult die Autobahn GmbH regelmäßig ihre Mitarbeitenden. Hochrisikotraining bei der Autobahnmeisterei Gelsenkirchen - zuständig für gut 150 Kilometer im nahen Umkreis.
Auch das Herner Kreuz A42 / A43 gehört zum Beritt von Niederlassungsleiter Michel von Scherenberg und seinem Team. Statt im Sattel sitzen er und seine Leute aber auf dem Bock von mächtigen Unimogs und Co. Wer durch das Nadelöhr mit Dauerbaustelle muss, versteht schnell, warum die Straßenwärter trotz ihrer orange leuchtenden Overalls von Gefahr reden. Sie ist ihr „ständiger Begleiter“, während sie sich etwa auf dem Seitenstreifen einrichten – den großen blinkenden Pfeil auf dem Lastwagen zur Warnung ausfahren, Pylonen, Warnbaken oder Schilder aufstellen.
Coach zu den Gelsenkirchener Teilnehmern: „Ist das Bein erst einmal ab, kommt’s nicht wieder dran“
Timing ist alles, denn es „gibt keinen zweiten Versuch“, sagt Sicherheits-Coach Johannes Kronen. „Ist das Bein erst einmal ab, kommt’s nicht wieder dran“. Hart, aber bittere Realität. Deshalb wird trainiert, gemahnt und wieder trainiert. Selbst simpel erscheinende Dinge können dabei den Ausschlag geben. Beispielsweise das richtige Aussteigen aus dem dicken Unimog. Richtig ist: rückwärts, mit beiden Händen an Griffen und Haltestangen und eng am Fahrzeug hinunter. Andersherum finden die Hände nur unter Verrenkungen Halt, und meist auch nur fünf Finger. Dazu noch der hohe Ausstieg aus der Fahrerkabine - und zack behält die Schwerkraft Oberhand. Der Proband kippt zu weit nach vorne, droht zu stolpern und viel zu weit auf der Fahrbahn zu landen. Kollision vorprogrammiert.
Leon Pfeffer (21) hat 2019 seine Ausbildung bei der Autobahn GmbH gemacht. Seit 2022 tritt er in die Spuren seines Onkels. Selbst er, sozusagen das „Küken“ unter vielen älteren und deshalb erfahreneren Kolleginnen und Kollegen, hat schon mitbekommen, wie gefährlich der Job ist. „Bei Ausbesserungsarbeiten ist ein Kollege vom einem Auto erfasst und über die Leitplanke geschleudert worden.“ Ihm selbst sei so etwas noch nicht passiert - zum Glück.
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Aber: 2023 ereigneten sich nach Angaben des Autobahnsprechers Anton Kurenbach in den Niederlassungen Rheinland und Westfalen, zur Letzteren gehört die Gelsenkirchener Meisterei, „34 fremdverschuldete Unfälle“, bei denen sieben Straßenwärter verletzt wurden. Zudem sind 26 große Fahrzeuge wie Lkw, Unimogs und Kehrmaschinen sowie drei Vorwarnanzeiger und 17 fahrbare Absperrtafeln bei Unfällen auf den Autobahnen in NRW beschädigt worden. Heißt: Andere Verkehrsteilnehmer sind in die Fahrzeuge und (Leucht-)Anzeigen gekracht.
Tückische Aufgaben für die Gelsenkirchener Straßenwärter - Auf Wackelbrettern Risse stopfen im Verkehr
Damit das nicht passiert, üben die Straßenwärter auf einem Parkour. Sicherheits-Coach Kronen lässt Leon und einen Kollegen auf Wackelbrettern Position beziehen, sie haben schwarze Metallkannen in der Hand. Darin Sand statt wie sonst üblich flüssiger Füller. Und vor ihnen mit einigem Abstand Gummimatten mit vielen tiefen Furchen, die es auszubessern gilt - so wie Risse im Asphalt. Halb gehockt, halb vornübergebeugt machen sich Leon und sein Partner ans Werk. Tückisch dabei: Auf einem Monitor vor ihnen läuft eine Videosequenz mit herannahenden Fahrzeugen. Sie müssen gleich drei Dinge gleichzeitig bewerkstelligen: die Risse stopfen, den Verkehr beobachten und einschätzen, wann sie sich zurückziehen müssen, um nicht von SUV, Lkw und Co. mitgeschleift zu werden.
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Keine einfache Sache, schon gar nicht das Abschätzen der Geschwindigkeit anderer Autos. Das zeigt die nächste Übung. Leon sitzt dafür am Steuer eines Unimogs und muss vor dem Ausstieg in den Rückspiegel schauen. Im Blickfeld hinter dem Wagen steht ein Monitor. Ein weiteres Video läuft. Zwei Fahrzeuge nähern sich, ein weißes und ein blaues - beide mit unterschiedlichem Tempo. Sicherheits-Coach Johannes Kronen fragt in die 30-köpfige Runde, mit „wie vielen Kilometern pro Stunde die Autos“ wohl unterwegs waren. Die Schätzungen variieren, „von Tempo 80 bis 110“. Leon selbst meint, um die 80 bis 90 Kilometer pro Stunde seien es gewesen.
Die Auflösung: Das weiße Auto kam mit 100 Kilometern pro Stunde auf den Straßenwärter zugerast, der blaue Wagen hatte einen Zahn mehr drauf - nämlich Tempo 140. Macht umgerechnet einen Unterschied von rund zehn Metern pro Sekunde. Wer da falsch liegt, setzt seinen Fuß direkt in die Todeszone. „Aufpassen“, sagt Kronen daher. „Und zwar immer. Die Gefahr ist allgegenwärtig.“