Gelsenkirchen-Erle. Die Real-Belegschaft ist kurz vor Schließung der Gelsenkirchener Filiale fassungslos. Zahlreiche Schnäppchenjäger stürmen den Laden.
Sorgen, hoffen, bangen – das alles hat den zuletzt 107 Beschäftigten der SB-Handelskette „Mein Real“ nichts genutzt: Der Standort an der Emscherstraße schließt offiziell Ende des Monats; der letzte Verkaufstag ist Samstag, 23. März. Während das insolvente Unternehmen auf grellen „Alles muss raus“-Plakaten mit satten Rabatten zur Verkaufsschlacht trommelt, ringen die verbliebenen Mitarbeitenden angesichts des Kundenansturms um Fassung.
Betriebsrats-Vorsitzende Sandra Huhn, seit rund 16 Jahren bei Real in Erle, schüttelt entgeistert den Kopf. „Der Laden ist in den letzten Wochen so voll wie noch nie. Wenn diese Leute mal früher und öfter hier eingekauft hätten, dann müssten wir womöglich gar nicht schließen“, berichtet sie mit einer Portion Sarkasmus von zahlreichen Schnäppchenjägern; erst auf Nachfrage kommt ihr das Wort „Leichenfledderer“ über die Lippen.
Unternehmen: Für Gelsenkirchener Real-Filiale wurde kein Käufer gefunden
Keine Frage, viele in der Belegschaft sind verbittert nach dem Auf und Ab der letzten Jahre voller Unsicherheit. Seit 2020 wechselten die Filialen mehrmals die Besitzer, mittlerweile gehört das Unternehmen (erneut) der SCP-Gruppe, einem russischen Finanzinvestor.
Schon vor rund zwei Jahren hatten die damals 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Emscherstraße das Aus gefürchtet, nun sind die Tage aber endgültig gezählt, nachdem die Kette im September 2023 Insolvenz in Eigenverwaltung angemeldet hatte. Davon betroffen damals: rund 5000 Jobs in bundesweit 62 Filialen. Gelsenkirchen zählt nun zu den 45 Filialen, für die nach Konzernangaben „trotz intensiver Bemühungen“ kein Abnehmer gefunden worden ist.
Gelsenkirchener Real-Beschäftigte sind enttäuscht und wütend
Dabei hatten sich die Beschäftigten im Mai 2022 noch Hoffnungen gemacht, als das Unternehmen millionenschwere Investitionen in den Standort in Aussicht stellte. Allein: Es blieb bei den Ankündigungen. „Man hat in andere Filialen zu viel in zu kurzer Zeit investiert, da blieb für Gelsenkirchen nichts mehr übrig“, so Sandra Huhn verbittert.
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Nach vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten in Erle sei „Mein Real“ für viele Beschäftigten so vertraut wie die eigene Familie, berichtet sie von einer gedrückten Stimmung. In die mische sich aber auch durchaus Wut über den Geschäftsführer und Frust angesichts, wie sie sagt, mangelnden Engagements der Politik. „Wir hatten Kontakt zu mehreren Politikern auch aus Gelsenkirchen, die sich für die Sicherung des Standorts einsetzen wollten. Die haben viel versprochen, aber am Ende nichts gehalten.“ Um wen es sich genau handelt, wollte sie nicht sagen.
Betriebsrats-Chefin: Viele Gelsenkirchener Real-Beschäftigte haben sich im neuen Job finanziell verschlechtert
Von den im November 2023 insgesamt 107 Beschäftigten seien in den letzten Verkaufstagen nur noch 50 vor Ort. Die übrigen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren hätten einen Job in anderen Unternehmen gefunden, „fast alle im Einzelhandel bei großen Ketten, die allerdings nicht nach Tarif zahlen.“ Insofern hätten sich die Kolleginnen und Kollegen in Sachen Gehalt verschlechtert. „Real hat den Tarif von 2018 gezahlt, also einen Stundenlohn von 15,84 Euro. Bei den Ketten ohne Tarifbindung ist es nur der Mindestlohn von 12,41 Euro“ - angesichts der Inflation eine doppelte Herausforderung.
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Für die 50 verbliebenen Beschäftigten seien zwar ein Interessensausgleich und Sozialplan ausgehandelt worden. „Ob es aber tatsächlich die maximal zweieinhalb Monatsgehälter sind, die das Insolvenzverfahren ermöglicht, wird sich erst in einigen Jahren herausstellen. Es ist auch möglich, dass wir nach dem Verkauf weniger oder gar nichts bekommen.“
Gelsenkirchener Stammkunden bedanken sich mit Süßigkeiten bei Real-Beschäftigten
Bis Samstag, 23. März, wollen sie sich noch einmal zusammenreißen und ihren Job machen, so wie immer; sich über die Abschiedsworte treuer Stammkundinnen und Stammkunden freuen, die teils Süßigkeiten als Geschenke dabeihaben und sich bedanken. Nach dem Dienst will ein harter Kern noch gemeinsam Italienisch essen gehen, ein letztes Mal, bevor ab Montag, 25. März, das große Aufräumen ansteht für die teils seit 35 Jahren in Erle Beschäftigten im Alter zwischen Mitte 20 und 60 Jahren. Ende März ist die Übergabe des 1981 eröffneten Supermarkts.
Nicht alle haben schon einen Anschlussvertrag in der Tasche, auch Sandra Huhn selbst ist noch auf der Suche. Viele hofften eben doch, einen Job zu finden, bei dem mehr gezahlt wird als der Mindestlohn. „Wenn so viele in der Wirtschaft nach Fachkräften rufen, dann sollen sie auch bereit sein, ein entsprechendes Gehalt zu zahlen“, findet sie.