Gelsenkirchen. Er ist einer der dienstältesten Kinderärzte Gelsenkirchens – und ein Mann der klaren Worte. Er sagt: „Der Egoismus wird immer größer.“
Er ist ein Mann der klaren Worte: Dr. Christof Rupieper, seit Jahrzehnten niedergelassener Kinderarzt, fängt nun an mit dem Schluss machen. Er wolle sich langsam zurückziehen, berichtet er, und auch, dass er seine Praxis zu Beginn des neuen Jahres an seine beiden Nachfolgerinnen übergeben habe. Stefanie Düchting und Sabrina Seidel führen fortan die Praxis „Kunterbunt“ an Rupiepers alter Wirkungsstätte mit neuem Namen, in den Räumen an der Ebertstraße 20. „Ich schaue lieber nach vorn als zurück“, sagt der 65-Jährige im Gespräch mit der WAZ. Und doch: Ein bisschen Rückblick geht immer, nach 30 Jahren Kinderarzt-Dasein in Gelsenkirchen.
Einer der bekanntesten Kinderärzte Gelsenkirchens gibt seine Praxis: Diese Veränderungen hat erlebt
„Ich bin jetzt nur noch Arzt“, betont der Vater von drei mittlerweile erwachsenen Kindern und dreifache Großvater lachend und es scheint, als lehne er sich auf seinem Stuhl ein bisschen zurück. Angestellter Arzt in seiner alten neuen Praxis, wohlgemerkt, tätig an zwei Tagen in der Woche. Die Zusammenarbeit mit den beiden jungen Kolleginnen bezeichnet Rupieper als „Win-win-Situation“, beide Seiten profitieren voneinander. Da sei zum einen Rupiepers Erfahrung, als Kinderarzt und Inhaber einer Arztpraxis, zum anderen die beiden jungen Kinderärztinnen Stefanie Düchting und Sabrina Seidel, die mit neuer Kraft praktizieren wollen.
2500 bis 3000 größere und (ganz) kleine Patientinnen und Patienten gehören zu Rupiepers Stamm, an manchen, an vollen Tagen, kommen 160 bis 180 Kinder in die Praxis. Rupieper, der zunächst eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolvierte („Das hat mit sehr geholfen, denn man lernt da Dinge, die man im Studium leider nicht lernt.“), kam per Losverfahren zu einem Platz für sein Medizinstudium in Essen. Nach Stationen im Gelsenkirchener Marienhospital und in Witten, eröffnete er zunächst eine Praxis an der Bochumer Straße. Danach folgte die Arbeit in der Innenstadt. Als Sprecher der Gelsenkirchener Kinderärzte ist Rupieper gut vernetzt, als Pädiater reichlich erfahren.
Noch vor etwas mehr als zwei Jahren hatte die WAZ schon einmal mit ihm über die Entwicklungen und Veränderungen seiner Arbeit im Laufe der vergangenen Jahrzehnte gesprochen. Dabei fiel der eindrückliche Satz: „Ich habe den sozialen Abstieg Gelsenkirchens hautnah mitbekommen.“ Aus seiner Erfahrung und der Beobachtung heraus hatte er den Eindruck gewonnen: Die Armut und Hilfebedürftigkeit der Menschen habe zugenommen. Die Gründe, sie sind gerade in einer Stadt wie Gelsenkirchen vielschichtig – es gibt die sprachlichen Barrieren, aber auch die eklatanten Unterschiede in den Lebenswirklichkeiten, den Familiengeschichten der Menschen. Obwohl es für den Mediziner noch immer „der schönste Beruf der Welt“ sei, sagte Rupieper damals, sei das Arbeiten mit den Jahren eben „ganz, ganz anders geworden“.
An diesem Morgen Mitte Januar 2024 geht der Kinderarzt einen Schritt weiter: „Die infektiösen Seuchen, die haben wir bekämpft, aber die sozialen Seuchen nicht.“ Er bekräftigt noch einmal das, was er schon in der Vergangenheit gesagt hat: „Hier wohnen viele Menschen, die oftmals keine Perspektive oder eine ganz andere Lebensform haben.“ Daraus entstehe eine Negativspirale im gesamten Sozialgefüge – und „das ballt sich hier“.
Gelsenkirchener Kinderarzt: Bei den Menschen gibt es ein „Amazon-Prime-Denken“
Diese Veränderungen, er hat sie auch bei den Eltern seiner Patienten beobachtet: „Das ist so ein Amazon-Prime-Denken“, heute bestellt, direkt danach geliefert. Will heißen: „Der Egoismus wird immer größer, das ist aber ein allgemeiner Trend“, so der Kinderarzt. Er verweist im Gespräch auf die Besonderheiten in der Kinderheilkunde, die nicht nur davon lebt, die Kinder und Jugendlichen zu behandeln, sondern vor allem auch erstmal zu beobachten („und die richtigen Fragen zu stellen“). Es geht ihm auch um Empathie, schließlich ist die Kinderheilkunde ein besonderes Feld – anders als die Erwachsenenmedizin. „Wir haben ja letztlich immer zwei Patienten – das Kind und die Eltern.“
Letztere sieht er auch in einer gewissen Verantwortung. Bildung und Erziehung sind für ihn „ein Paar Schuhe“. Das bedeute auch, dass in der Erziehung Grenzen gesetzt werden müssen, dass es klare Regeln geben muss. Für Rupieper geht es bei der Erziehung immer auch um die Unterstützung bei der Persönlichkeitsbildung.
Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder abonnieren Sie uns kostenlos auf Whatsapp und besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
Die Kindertagesstätten und die Schulen dieser Stadt leisten nach Rupiepers Ansicht Entscheidendes: die Integrationsarbeit. Es braucht in seinen Augen viel mehr Personal, viel mehr Lehrerinnen und Lehrer, viel mehr Erzieherinnen und Erzieher. „Wir haften teilweise immer noch in den Strukturen von vor Jahrzehnten“, ist Rupieper überzeugt. Nach wie vor finde in diesem Land keine familienfreundliche Politik statt. Aber da wäre doch zum Beispiel die Sache mit dem Kinderkrankenschein: Erziehungsberechtigte, die ein krankes Kind betreuen müssen, können seit Dezember, ohne einen Besuch in teils übervollen Wartezimmern der Kinderarztpraxen, die notwendige ärztliche Bescheinigung auch am Telefon bekommen. Das große Aber: Im Zweifel müssten die Eltern trotzdem noch einmal in die Praxis kommen – um die Bescheinigung abzuholen, so Rupieper.
Und was plant er für die Zeit danach? „Ich werde nicht dem Gras beim Wachsen zusehen“, dafür sei er gar nicht der Typ. Nein, er liebäugelt mit einem weiteren Studium, dem der Religionswissenschaften. Eines ist für ihn aber schon jetzt klar: „Es überwiegt: Das Gefühl zu haben, dass es vernünftig weitergeht.“