Gelsenkirchen-Hassel. Risse in Mauern, Schäden am Dach, Putz fällt von der Decke: Kira und Monika Schmidt aus Gelsenkirchener fühlen sich einer Baufirma ausgeliefert.
Pferdestall, Werksfürsorge, Wohnheim für Bergleute, Kultur-Begegnungsstätte: Das Alfred-Schmidt-Haus auf dem einstigen Gelände der Zeche Bergmannsglück hat samt Nebengebäude viele Wandlungen durchlebt. Doch massive Bauweise hin oder her: Im 101. Jahr des Bestehens fürchten die Eigentümerinnen buchstäblich um ihr Dach über dem Kopf. Mit dem Beginn der Arbeiten für das neue Zentrallager der Firma Fahrrad XXL Meinhövel hat ihr Haus massive Schäden erlitten. Ein Fachmann attestiert „grobe Fahrlässigkeit“.
Im Juni war es, als die Unternehmer Alf und Markus Meinhövel mit Gelsenkirchens Wirtschaftsförderungs-Dezernent Simon Nowack die 13-Millionen-Euro-Investition an der Bergmannsglückstraße 30 verkündeten: Auf dem 13.000-Quadratmeter-Grundstück sollen eine 5000 Quadratmeter große Halle sowie ein dreigeschossiger Anbau entstehen (wir berichteten).
Seit Baubeginn haben die Gelsenkirchenerinnen immer neue Risse am Haus entdeckt
Was die Stadt als „starkes Bekenntnis“ des Mittelständlers zu Gelsenkirchen würdigte, trieb schon damals Monika und Kira Schmidt die Sorgenfalten auf die Stirn: Wird das elf Meter hohe Lager doch unmittelbar neben ihrem Grundstück an der Bergmannsglückstraße 42 errichtet.
Dass sie und ihre Mutter deswegen künftig keine Morgensonne mehr abbekommen werden, damit haben sich die beiden abgefunden. Bei den plötzlich entstandenen Rissen im Mauerwerk, den Schäden im Dach und im Laminat gelingt ihnen das aber nicht. Mit bangen Blicken wandern sie jeden Morgen aufs Neue von Raum zu Raum auf der Suche nach weiteren Schäden in und an den Gebäuden, die seit 1983 ihr Zuhause sind.
Historisches Gebäude war einst die Heimat des Gelsenkirchener Künstlers Alfred Schmidt
Sie waren damals mit Ehemann bzw. Vater Alfred Schmidt eingezogen, ein Künstler, dessen Arbeiten weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen sind. Er hatte das Gebäude unter dem Namen Kulturhaus Bergmannsglück zum Treffpunkt für Kunst, Künstler und Bevölkerung ausgebaut. Nach seinem Tod 1997 wurde es in „Alfred-Schmidt-Haus“ umbenannt und weiterhin genutzt als Kulturhaus mit gesellschaftspolitischem Profil. Ausschließlich ein privates Wohnhaus war es nie.
Doch jetzt sind Witwe Monika und Tochter Kira Schmidt in großer Sorge um die damalige Begegnungsstätte. „Wir haben Angst, dass durch die Erderschütterungen Teile des alten Fachwerkhauses oder des Dachstuhls einstürzen könnten und fragen uns, wer die Reparatur bzw. die Sanierung bezahlt. Wir können es nicht“, sagt Monika Schmidt, die nach wie vor als freie Künstlerin arbeitet.
Gelsenkirchenerinnen: „Über Risse gelangt Feuchtigkeit ins Innere“ - Angst vor Schimmel
Ein Ortstermin zeigt: Oberhalb der Haustür finden sich in der Fassade Risse im Mauerwerk; über zwei Fenstern ist ein Teil der Außenfläche von einer Kunststoff-Plane abgedeckt. „Dort hat ein von Goldbeck beauftragter Subunternehmer den Putz abgelöst und den Stahlträger freigelegt. Wie sich herausgestellt hat, ist er korrodiert“, erklärt Kira Schmidt.
Auch im Gebäude zeigen sich in nahezu jedem Raum Risse – einige haarfein, andere einige Zentimeter breit. Besonders auffällig ist der tiefe Spalt neben der Haustür. „Dort gelangt neuerdings so viel Feuchtigkeit ins Innere, dass das Türblatt jeden Morgen patschnass ist“, so die freie Autorin.
Gelsenkirchenerinnen: Dachpfannen hätten sich verschoben und Latten verzogen
An fast allen Fensterlaibungen sind Risse erkennbar. Besondere Sorgen macht Kira Schmidt das Dachgeschoss des Wohnhauses, wo am 6. August ein Teil des Deckenputzes herunterfiel und ein Bild von Monika Schmitt zerschnitt, das dort abgestellt war. „Die Pfannen haben sich verschoben und die Latten verzogen.“ Ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen sei das Dach des Nebengebäudes, der Galerie.
Baufirma habe Mauer-Fundament unterhöhlt - Gelsenkirchenerinnen fürchten um Statik
„Die Baufirma Goldbeck hat überdies gegen unseren ausdrücklichen Willen das Erdreich unter dem Fundament einer Anschlussmauer ausgehöhlt, so dass wir nun um deren Standfestigkeit fürchten.“ Diese hatte bis dato das höher gelegene Gelände stabilisiert.
Alle Schäden haben Mutter und Tochter nach eigenen Angaben jeweils sofort nach der Entdeckung dem Bauleiter bzw. der Baufirma gemeldet. „Man hat uns versichert, dass alles repariert würde. Passiert ist aber so gut wie nichts“, berichtet Kira Schmidt.
Ein im Sommer von Goldbeck beauftragter Subunternehmer habe zwar Risse im Mauerwerk und im Galerie-Dach mit Bausilikon geflickt. „Von einer gründlichen Sanierung kann da aber keine Rede sein: Das Silikon verträgt sich laut unserem Dachdecker nicht mit Schweißbahnen. Tatsächlich ist das Dach jetzt eingesunken“, haben die beiden mittlerweile große Zweifel an der Professionalität der Sub-Firma.
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Als Nicht-Fachleute fühlen sie sich hingehalten und der Bielefelder Baufirma Goldbeck ausgeliefert – einem „Big Player“ in der Hochbaubranche mit rund 12.000 Beschäftigten und einer Gesamtleistung von 6,7 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2022/23. Die Hasselerinnen sind verzweifelt: Als Freiberuflerinnen fehlt ihnen das Geld, selbst einen Fachmann mit einem womöglich mehrere tausend Euro teuren Baugutachten zu beauftragen und das Ganze gerichtlich auszufechten.
Zwischengutachten sei an vielen Stellen fehlerhaft und „geradezu absurd“
Das von Goldbeck in Auftrag gegebene Erstgutachten, das auf zwei Ortsterminen Ende Mai/Anfang Juni basiert – also drei bzw. vier Wochen nach Beginn der Baumaßnahmen –, dokumentiere eindeutig, dass das Mauerwerk bis auf zwei, drei ältere Haarrisse „tiptop in Ordnung“ gewesen sei, so Kira Schmidt. Das Zwischengutachten jedoch mit Bezug auf eine Besichtigung Ende August, als schon etliche neue Risse entstanden seien, sei an vielen Stellen „fehlerhaft, ja geradezu absurd“.
So werde darin auf die Unversehrtheit von Gipsmarken hingewiesen, die Erschütterungen dokumentieren sollen. „Bebildert wird dies aber mit unserem Telefonanschluss, den die Telekom einst mit Gips verschmierte. Das kann man doch nicht ernst nehmen“, berichtet Kira Schmidt fassungslos.
Gelsenkirchener Baugutachter attestiert Baufirma grobe Fahrlässigkeit
Dass einiges schief gelaufen ist, davon ist nach einer Besichtigung auch der Gelsenkirchener Architekt Markus Gebhardt überzeugt, der u.a. als Baugutachter tätig ist. „Es ist eher unüblich, dass das Bauunternehmen nicht vor Beginn einer solchen Maßnahme ein Gutachten hat erstellen lassen, um den Ist-Zustand zu dokumentieren. Das erschwert die Beweissicherung und ist grob fahrlässig.“
Er selbst geht davon aus, dass die Erschütterungen durch die Bauarbeiten nebenan den Putz unter der obersten Geschossdecke gelöst haben und für die teils weit klaffenden Risse maßgeblich verantwortlich sind. Eine Einsturzgefahr des Wohnhauses sieht er zwar nicht; die Statik des Nebengebäudes könne durch die Unterhöhlung des Fundaments aber sehr wohl gefährdet sein. Es sei „auf jeden Fall“ von einer „fünfstelligen Wertminderung“ auszugehen.
Architekt aus Gelsenkirchen sieht Gefahr einer „Kaputtsanierung“
Die Zweifel der Eigentümerinnen an der Professionalität der Ausbesserungsarbeiten kann er durchaus nachvollziehen. „Der Einsatz von Bausilikon ist nur eine akute Notmaßnahme. Danach sollte sofort eine grundlegende Sanierung beginnen.“ Der offengelegte Stahlträger etwa korrodiere unter der Folie weiter. Nötig sei eine fachgerechte Entrostung, von der jedoch laut Kira Schmidt keine Rede war, als der Subunternehmer den Bereich sofort verputzen wollte.
Gebhardt sieht sogar eine mögliche Unterschutz-Stellung des Gebäudes durch „Kaputtsanierungen“ in Gefahr. Die Schmidts hatten im Mai einen Antrag auf Eintragung in die Denkmalliste gestellt.
Baufirma: Nehmen Bedenken der Gelsenkirchener Familie sehr ernst
Von der Redaktion um eine Stellungnahme gebeten, antwortet ein Unternehmenssprecher auf die 21 Fragen allgemein mit der Beteuerung, „die Bedenken der Familie Schmidt sehr ernst“ zu nehmen. Dass die vorbereitenden Bodenbauarbeiten auf das Gebäude „schädlich eingewirkt“ hätten, bestreitet Goldbeck „nachweislich“. Wie bei solchen Projekten üblich, seien Erschütterungsmessungen durchgeführt worden.
Mit welchem Ergebnis, teilt Goldbeck nicht mit. Offen bleibt auch, warum es versäumt wurde, vor Beginn der Arbeiten ein Gutachten zum Ist-Zustand erstellen zu lassen und wieso bislang nur Notreparaturen von womöglich zweifelhafter Qualität durchgeführt wurden.
Bielefelder Unternehmen will für von ihr verursachte Schäden „einstehen“
Der Sprecher betont: „Alle Vorgaben, die zusammen mit Sachverständigen auf Basis der vorbereitenden Maßnahmen festgelegt wurden, sind eingehalten worden.“ Und: „Selbstverständlich steht Goldbeck für schuldhaft durch die Baumaßnahmen verursachten Schäden ein.“ Welche genau das Unternehmen hier im Blick hat, bleibt unklar, zumal er hervorhebt: Familie Schmidt habe bestätigt, „dass Risse vor Beginn der Bauarbeiten vorhanden waren.“
Der buersche Unternehmer Markus Meinhövel als Bauherr zeigt sich auf Nachfrage derweil „bemüht, alles zum Guten zu wenden“. Was die konkreten Vorwürfe angeht, verweist er auf die ausführende Baufirma.
Für die Schmidts läuft unterdessen die Zeit davon. Nach einer Krebs-Diagnose steht für Kira Schmidt in diesen Tagen eine Operation an. Sie hat den Bauleiter gebeten, bis Ende Oktober die Schäden zumindest so zu reparieren, dass das Haus ohne Frostsprengungen über den Winter kommt.