Gelsenkirchen. Im Rahmen der Lit.Ruhr las Besteller-Autorin Judith Hermann in Gelsenkirchens „Kaue“ aus ihrem neuen Roman. Tiefe Einblicke in ihre Arbeit.
In einem Spätkauf-Laden mitten in Berlin trifft die Ich-Erzählerin des Nachts unvermittelt auf ihren einstigen Psychoanalytiker. Aus Neugier folgt sie ihm in seine Stammkneipe, um sich noch einmal mit ihm und vor allem mit sich selbst auseinanderzusetzen. Welche Erinnerungen dabei hochspülen an Lebensereignisse, an Kindheit, Jugend, an Freunde und Familie, davon erzählt die mehrfach preisgekrönte Bestseller-Autorin Judith Hermann. Auf Einladung des renommierten Literatur-Festivals „Lit.Ruhr“ gastierte die Autorin in der vollbesetzten Kaue, um aus ihrem aktuellen Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ zu lesen und vor allem zu erzählen.
Moderator und Literaturwissenschaftler Christian Schärf zählte gleich zu Beginn ausführlich sämtliche Auszeichnungen der Berliner Schriftstellerin auf, und als Zuhörer befürchtete man unterhaltungstechnisch das Schlimmste. Aber schon ein paar Augenblicke weiter wurde es durchaus spannend und bei den drei Lesebeiträgen der Autorin poetisch, ironisch, oft berührend und auch informativ.
Befreundet mit „Lenin auf Schalke“-Autor Gregor Sander
Judith Hermann punktet auf Anhieb beim Publikum: „Ich durfte mir den Ort für die Lesung selbst aussuchen und habe mich für Gelsenkirchen entschieden.“ Dankbarer Beifall. Der Grund für diese Entscheidung liege in einer Freundschaft mit dem Autor Gregor Sander, der das Buch „Lenin auf Schalke“ geschrieben hat. „Ich wusste allerdings nicht, dass ich in Essen stationiert werde“, lacht die Autorin, „ich muss also noch mal in eigener Verantwortung hierher zurückkommen.“ Die Zuhörer freut’s, Beifall.
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Judith Hermann,1970 in Berlin geboren, legte so großartige Erfolgsbücher wie „Sommerhaus, später“, „Alice“ oder „Lettipark“ vor. In ihrem aktuellen Band vereint sie ihre drei Frankfurter Poetikvorlesungen. Was akademisch klingt, liest sich stattdessen spannend in einer Mischung aus literarischer Erzählung und realem Einblick in die Schreibwerkstatt. In dieser angesehenen Universitäts-Reihe setzt sich jedes Semester ein Autor mit Fragen zu seiner poetischen Produktion auseinander. Geheimnisse, die Judith Hermann eigentlich nie lüften wollte.
„Die Einladung dazu hat mich zunächst geschockt“, gesteht sie, große Namen wie Ingeborg Bachmann und Günter Grass gehörten zu ihren Vorgängern. Aber: „Das ist wie ein Ritterschlag mit vorgehaltener Pistole. Das kannst du nicht ablehnen.“ Am Ende gar ist nun ein Buch aus diesen Vorlesungen entstanden.
Hermann: „Ich schreibe am eigenen Leben entlang“
Moderator Schärf nennt den Band „eine Suchbewegung“ und Hermann stimmt zu. Aus dem Text liest sie diesen Satz: „Ich schreibe am eigenen Leben entlang.“ Eigentlich, lächelt sie, wollte sie gar nicht viel preisgeben von ihrer Arbeitsweise: „Ich gebe vor, etwas über mein Schreiben zu sagen, tue das aber nicht wirklich.“ Stattdessen habe sie Zuhörer und Leser abgelenkt durch private Geschichten. Aber auch hier gilt: „Ich habe mehr Dinge verborgen als offenbart.“
Und darum dreht sich auch ein großer Teil des Bühnengesprächs in der Kaue: Was in dem Buch ist Fiktion und was ist nicht erfunden? Mit dieser Frage spielen Judith Hermanns Bücher sehr subtil, geben vor, Erlebtes wiederzugeben, sind vielleicht aber auch nur erfunden. Fantasie oder Autobiografie? Die Autorin weiß: „während der Vorlesungen haben die Studenten vor allem die Namen der Protagonisten gegoogelt.“ Sie wollten wissen, ob es den Psychoanalytiker Dr. Dreehüs wirklich gibt und ob seine Stammkneipe tatsächlich so wie im Buch heißt.
Am Ende gibt die Autorin ihrem Publikum eine klare Antwort mit auf den Weg: „Was wahr ist, das entscheidet allein der Leser.“