Gelsenkirchen. Kinderärzte ärgern sich über das „skandalöse Verhalten“ von Krankenkassen. Es geht um die Frage: Welche Medikamente dürfen verschrieben werden?
„Wir haben die Nase voll!“: Der Gelsenkirchener Kinderarzt Dr. Christof Rupieper hatte unlängst Post der Krankenkasse IKK classic bekommen – darin die Forderung über 135,36 Euro für die Verordnung eines Medikaments. Der Sprecher der hiesigen Kinderärzte ist sauer über das „skandalöse Verhalten von Krankenkassen“ und mit ihm seine Kolleginnen und Kollegen, die laut Rupieper zum Teil Zahlungsaufforderungen im vierstelligen Bereich erhalten haben sollen. Das Problem dahinter ist verzwickt.
Nachzahlungen der Krankenkassen: Gelsenkirchens Kinderärzte haben die „Nase voll“
Es geht um die Zulassung von Medikamenten, die bei bestimmten Erkrankungen (zum Beispiel bei Asthma oder Herzerkrankungen), ab einem bestimmten Alter und verschiedenen Therapien eingesetzt werden, gerade und besonders in der Kinderheilkunde.
Wird ein nicht zugelassenes Medikament trotzdem verordnet (so genannte „Off-label-Verordnung“) kann die Krankenkasse die Zahlung verweigern und das Geld vom Arzt zurückfordern. Die Krux: Aufgrund der mangelnden Studienlage gibt es wenige Zulassungen für Säuglinge und Kinder. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass die Medikamente weniger wirksam sind oder gar gravierende Nebenwirkungen haben, sie werden sogar in den Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften empfohlen.
„Selbst die meisten frei käuflichen Hustensäfte haben keine Zulassung für ganz kleine Patienten“, erklärt Rupieper. Und er fügt hinzu: „Hielten wir Kinderärzte uns an die Vorgaben, so müssten wir die Eltern betroffener Säuglinge vertrösten, bis das Kind mindestens zwei Jahre alt ist, um mit einer Therapie zu beginnen. Als im letzten Herbst die massive RSV-Welle über das Land schwappte, hätten wir nur schulterzuckend zuschauen dürfen.“
Kinderarzt Rupieper: „Erleben immer wieder, dass unsere Helferinnen wüst beschimpft werden“
Die Konsequenz sei nun, so Rupieper, dass er „IKK-Classic-Patienten ab sofort die Off-label-Medikamente nur noch auf einem Privatrezept rezeptiere. Dann kann die Kasse entscheiden, ob sie die Kosten für die Medikation den Eltern rückerstattet.“ Es könnte also sein, dass die Eltern darauf sitzenbleiben.
Keine angenehme Prognose, wenn man betrachtet, was der Kinderarzt aus seinem Praxis-Alltag berichtet:„Wir erleben immer wieder, dass unsere Helferinnen oft wüst beschimpft werden, wenn wir den Therapiewünschen unserer Patienten nicht nachgeben. Das liegt daran, dass es klare Verordnungsvorgaben gibt. Und wenn sich eine Versicherung an klare Vorgaben hält, tun wir Ärzte das auch. Andere Kassen übernehmen die Kosten für die Medikamente.“
Die IKK Classic antwortet auf Nachfrage der WAZ: „Die Versorgung von Arzneimitteln ist in Deutschland zum Schutz der gesetzlich Krankenversicherten rechtlich eng geregelt.“ Grundsätzlich dürften nur Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegeben werden, die „durch eine ausführliche Studienlage nachgewiesen haben, dass sie für eine bestimmte Patientengruppe oder eine bestimmte Indikation wirksam und möglichst risikoarm sind.“ Außerdem müsse ein Pharma-Unternehmen die Zulassung bei der zuständigen Behörde erhalten haben.
Zu den so genannten „Off-Label-Use-Verordnungen“ berichtet die Krankenkasse, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit erkannt habe und einen Weg eröffne, um in Ausnahmen eben diese Verordnungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu ermöglichen. Jeder Einzelfall werde per Antrag demnach von den Krankenkassen geprüft – „zum Schutz der Versicherten“, wie ein IKK-Classic-Sprecher aus seiner Sicht erklärt. Ein Prozess kommt in Gang: „Für die medizinische Beurteilung des Antrages beauftragt die IKK Classic den Medizinischen Dienst (MDK). Hier recherchieren Ärzte die Datenlage zu dem entsprechenden Arzneimittel und bewerten dann den konkreten Einzelfall.“
Krankenkassen überprüfen stichprobenartig, ob die Verordnungen korrekt sind
Ab von dem oben beschriebenen Vorgehen: Die Kassen überprüfen rückwirkend und stichprobenartig, dazu sind sie auf Grundlage von rechtlichen Vorgaben verpflichtet, ob die Verordnungen korrekt erfolgt sind. Gibt es Auffälligkeiten, stellen die Krankenkassen Prüfanträge. In einer gemeinsamen Prüfungsstelle von Kassenärztlicher Vereinigung und den Krankenkassen entscheidet dann, so die IKK Classic, „qualifiziertes Personal“, ob die Verordnung so in Ordnung war. Ist sie das nicht, „werden die entstandenen Kosten des falsch verordneten Arzneimittels der Ärztin oder dem Arzt durch die Prüfungsstelle in Rechnung gestellt.“
- Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt und auf TikTok. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
Und gibt es seitens der Krankenkassen ein Bestreben, etwas an diesen Umständen zu ändern? „Die Krankenkassen haben keinen Einfluss darauf, für welche Arzneimittel, Anwendungsbereiche und Personengruppen die pharmazeutischen Unternehmen ihre Studien durchführen“, betont die IKK Classic. Nicht nur Studien an Kindern seien sehr selten, auch Frauen würden nicht so häufig in Studien aufgenommen. Eine Rolle spiele dabei unter anderem, dass das „wirtschaftliche Potenzial für die Anwendung von vielen Arzneimitteln bei Erwachsenen größer ist, da mit dem Alter auch die schwereren Erkrankungen zunehmen“. Eine konkrete Änderung dieser Umstände müsse durch den Gesetzgeber initiiert werden.