Gelsenkirchen. Lange unbemerkt verwest eine Leiche in Gelsenkirchen. Eher traurige Regel als Ausnahme, sagt die Feuerwehr. Die Stadt reagiert mit Kampfansage.

  • Feuerwehr-Experte: „Es sterben mehr Menschen einsam und lange unbemerkt“
  • Potenzial hoch für einsamen Tod: 20.000 Ü60-Singlehaushalte in Gelsenkirchen
  • Duftbäume gegen Leichengeruch – statt Polizei und Feuerwehr zu alarmieren

Armut, Einsamkeit, Isolation. Wochenlang verweste die Leiche eines 66-jährigen Mannes in Gelsenkirchen. Sein Tod blieb lange unbemerkt. Erst als der penetrante Geruch das Maß allen Erträglichen überschritten hatte und Fliegen, Maden und andere Plagegeister in Nachbarwohnungen eindrangen, wurde die Leiche entdeckt. Auch die hiesige Feuerwehr hat vielfach „erschütternde Erfahrungen“ mit diesem Phänomen gemacht, bei dem Nachbarn und Freunde Scheuklappen zu tragen scheinen. Gelsenkirchens Sozialdezernentin will das nicht hinnehmen, sagt dem einsamen Tod den Kampf an.

Feuerwehr Gelsenkirchen: Soziale Kontrolle und soziale Kontakte nehmen ab

„Es sterben mehr Menschen einsam und lange unbemerkt. Die sozialen Kontakte und die soziale Kontrolle haben abgenommen“, sagt Ansgar Stening, Oberbrandrat bei der Gelsenkirchener Feuerwehr. Heute im Führungsdienst, blickt der Profi-Retter auf eine langjährige Erfahrung zurück.

Stening kann zum Phänomen „Einsamer Tod“ auch Zahlen nennen. In diesem Jahr hat die Feuerwehr bereits 21 Leichen aus ihren Wohnungen geholt. Für 2023 rechnet die Feuerwehr mit ähnlich hohen Fallzahlen wie in den vorangegangenen Jahren, ihre Schätzung beläuft sich auf 42 Fälle (siehe Grafik). 2019 waren es 40 Fälle, 2020 kletterte ihre Zahl auf 54, danach lagen die Fallzahlen über der 40er-Marke. Den sprunghaften Anstieg 2020 erklärt die Feuerwehr damit, dass in den Anfängen der Corona-Pandemie die Menschen schwieriger zu erreichen waren.

Stening nennt ein Beispiel aus seiner Zeit in München: „Statt Polizei und Feuerwehr zu alarmieren wegen des penetranten Geruchs im Hausflur, haben Nachbarn Duftbäume ins Treppenhaus und an die Tür gehängt, aus der der Gestank drang. Niemand ist auf die Idee gekommen, dass dem Menschen dahinter etwas zugestoßen sein könnte, geschweige denn, dass jemand verstorben sein könnte.“

Und er sagt auch: Dass die Menschen nicht mehr über ihren eigenen Tellerrand hinausschauen, sei nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal von Großstädten, in kleineren, sogar ländlichen Gemeinden gebe es das auch. Lesetipp:Einsames Sterben: Diese Dramen erlebt ein Tatortreiniger“

Ansgar Stening ist Oberbrandrat bei der Gelsenkirchener Feuerwehr. Er gehört zum Führungsstab.
Ansgar Stening ist Oberbrandrat bei der Gelsenkirchener Feuerwehr. Er gehört zum Führungsstab. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Bis das lange Verschwinden auffalle so Stening weiter, müsse oft erst nach Wochen der Briefkasten überquellen und der Leichengeruch im Haus ein unerträgliches Maß erreichen. Das könne dauern, im aktuellen Gelsenkirchener Fall könnten es etwa vier Wochen gewesen sein. Sterben alleinstehende Menschen in ihrem Einfamilienhaus, vergehe häufig noch mehr Zeit bis zum Leichenfund.

Im günstigsten Fall, sagt Stening, stoße der Pflegedienst auf die Verstorbenen, was eine lange Verwesung in den eigenen vier Wänden verhindere. „Oder Freunde und Verwandte, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen nach dem Rechten schauen. Ansonsten aber: Fehlanzeige.“ Der Blick für den Menschen nebenan gehe mehr und mehr verloren.

Sozialdezernentin: Stadt arbeitet an Pilotprojekt „Präventive Hausbesuche“ für Ältere

Gelsenkirchens Sozialdezernentin Andrea Henze macht „das Phänomen Einsamkeit und Sterben in der Isolation sehr betroffen“, sagt sie. Ihr sei klar, dass sich solche Fälle nicht in Gänze verhindern ließen, den Kampf gegen das Abtauchen in Einsamkeit und Sterben in der Anonymität hat die Stadträtin dennoch aufgenommen. In Vorbereitung sind zwei Pilotprojekte für den Süden und Norden der Stadt, die „präventive Hausbesuche“ zum Ziel haben – vornehmlich geht es dabei um Singles und Senioren.

Gelsenkirchens Sozialdezernentin Andrea Henze machen Fälle wie der des einsam verstorbenen Mannes an der Bickernstraße in Bismarck betroffen. Sie arbeitet mit der Verwaltung an einem Pilotprojekt, um die Isolation meist älterer Menschen aufzubrechen.
Gelsenkirchens Sozialdezernentin Andrea Henze machen Fälle wie der des einsam verstorbenen Mannes an der Bickernstraße in Bismarck betroffen. Sie arbeitet mit der Verwaltung an einem Pilotprojekt, um die Isolation meist älterer Menschen aufzubrechen. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Aber auch der sozialpsychologische Dienst steht Anwohnern zur Seite, wenn sie sich um ihre Nachbarn sorgen. Darüber hinaus gibt es ein großes Netzwerk, bestehend aus Nachbarschaftsstiftern, ZWAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand)- und Spaziergangsgruppen, Technikbotschaftern, das Mehrgenerationenhaus oder auch die „Projektwerkstatt 50plus“, um nur einige zu nennen.

Aber jedes noch so engmaschige Netz hat auch Lücken. Und seine Reichweite hat Grenzen. In Gelsenkirchen gibt es rund 20.000 (Stand: 2021) Singlehaushalte von Menschen im Alter von 65 Jahren und älter. Rund 11.500 Singlehaushalte in der Emscherstadt beziehen SGB-II-Leistungen. Das Statistische Landesamt hat bereits 2019 für NRW prognostiziert: „Bis 2040 wird die Gruppe der Frauen ab 75 Jahren in Einpersonenhaushalten noch weiter an Bedeutung gewinnen und um über ein Viertel anwachsen. Männer ab 75 Jahren werden zu diesem Zeitpunkt zur zweitgrößten Gruppe der Alleinlebenden anwachsen – jedoch mit deutlichem Abstand gegenüber den gleichaltrigen Frauen.“ Das lässt das Potenzial von Tod in Einsamkeit erahnen.