Gelsenkirchen-Hassel. Eine Glocke aus der Gelsenkirchener Kirche St. Michael soll demnächst nach Polen zurückgebracht werden. Diese Geschichte steckt dahinter.
Propst Markus Pottbäcker geht in die Knie und schlägt mit einem gummierten Hammer leicht gegen die alte Glocke. Ein feiner, klarer Klang ertönt, steigt auf bis unters Kirchendach von St. Michael, verteilt sich im Raum, hallt nach. Der Propst lächelt. „Klingt doch schön“, sagt er. Demnächst wird dieser Klang allerdings nicht mehr in Gelsenkirchen-Hassel zu hören sein. Die Glocke wird die Gemeinde verlassen. Und dorthin zurückkehren, wo sie zu Hause ist.
Zurzeit steht sie noch im Altarraum der katholischen Kirche St. Michael. Sie dient als „Wandlungsglocke“: Während der Wandlung, des Höhepunkts einer heiligen Messe, wird sie von Messdienern geschlagen. Diese Aufgabe hat sie in den vergangenen Jahrzehnten erfüllt, zunächst in der Kirche St. Mariä Himmelfahrt in Buer, in den vergangenen Jahren in Hassel. Dabei hat die Glocke eine bewegte Geschichte hinter sich – die hat jetzt der Gelsenkirchener Journalist Boris Spernol, Herausgeber der Kirchenzeitung „Neues Ruhrwort“, recherchiert.
In diesem Jahr wurde die Glocke aus der Gelsenkirchener Kirche gegossen
Gegossen wurde die Glocke demnach im Jahre 1616, zwei Jahre vor dem Ausbruch des 30-jährigen Krieges. Das ist einer Inschrift zu entnehmen, die sich oben um die ganze Glocke herumzieht: „Gott ist mein Trost, der mich erlöst“, steht da, daneben das Datum des Gusses und der Name des Glockengießermeisters: Adam Schraub. Dass sie einst im Westen Deutschlands läuten würde, hätte sich Meister Schraub damals mit Sicherheit nicht vorstellen können. Gegossen wurde sie nämlich für eine Kirche viel weiter östlich.
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Diese Kirche war (und ist bis heute) der heiligen Hedwig (polnisch: Jadwiga) geweiht und steht im Dorf Radoschau, das heute Radoszowy heißt. Gelegen in Oberschlesien, nahe der Stadt Beuthen (heute Bytom), erlebte auch das Dorf eine wechselvolle Geschichte. Als die Glocke gegossen wurde, gehörte Schlesien noch zu Böhmen und damit zum Habsburger Reich, im 18. Jahrhundert eroberte Preußen in den Schlesischen Kriegen die Region, später war Radoschau bis 1945 Teil des Deutschen Reiches. Lesen Sie auch:Gelsenkirchener Dechant würde Queere weiterbeschäftigen
Vom Hamburger „Glockenfriedhof“ nach Buer
Im Zweiten Weltkrieg brauchte die deutsche Wehrmacht Metall für ihr Kriegsgerät, und wie auch schon im Ersten Weltkrieg wurden dafür Glocken eingeschmolzen. 1942 musste auch die St.-Hedwig-Kirche in Radoschau ihre Glocke hergeben, sie wurde zu einer zentralen Sammelstelle nach Hamburg gebracht, dem sogenannten „Glockenfriedhof“. Dass sie den Krieg dort überlebt hat, verdankt sie offenbar ihrem Alter. Die Glocken wurden damals je nach Wert in Kategorien eingeteilt. Während Glocken der Kategorie A und B in der Regel sofort eingeschmolzen wurden, wurden Glocken der Kategorie C und D als besonders wertvoll angesehen und zunächst verschont: Adam Schraubs Glocke kam in die Kategorie C und blieb erhalten.
Wechselhafte Geschichte
Das polnische Dorf Radoszowy hat etwas mehr als 200 Einwohner und gehört zur Gemeinde Pawlowitzke in der Woiwodschaft Oppeln. Die Gemeinde ist zweisprachig, hier wird polnisch und deutsch gesprochen.Vor 1945 war das Dorf Radoschau Teil des Landkreises Cosel in Oberschlesien. Zwischen 1936 und 1945 wurde es von den Nationalsozialisten in „Drosselschlag“ umbenannt.
„Wie die Kirche dann aus Hamburg nach Buer gekommen ist, kann ich nur vermuten“, sagt Propst Markus Pottbäcker. Die Kirche St. Mariä Himmelfahrt wurde Anfang der 1950er-Jahre gebaut – „vermutlich hat man sich damals auf dem Glockenfriedhof umgeschaut und die Glocke mitgenommen“, so der Propst. Im Turm von Mariä Himmelfahrt hing sie aber nur eine kurze Zeit, nur wenige Jahre nach dem Bau schaffte die Gemeinde ein komplettes Geläut an. Die schlesische Glocke diente fortan als Wandlungsglocke. Als die Kirche im vergangenen Jahr außer Dienst gestellt wurde, kam die Glocke nach St. Michael.
„Als wir von Boris Spernols Recherche hörten, war uns sofort klar: Die Glocke muss zurück nach Polen“, berichtet Pottbäcker von einer Sitzung des Kirchenvorstandes. Mithilfe einer polnisch sprechenden Mitarbeiterin nahm der Propst Kontakt mit Radoszowy auf. „Dort war man völlig aus dem Häuschen, als man davon gehört hat“, sagt Pottbäcker. Vermutlich im Sommer wird sich die Glocke auf ihre vorerst letzte Reise machen: Dorthin, wo sie hingehört. „Es wäre schön, zu wissen, dass wir mit dieser Aktion eine Kriegswunde schließen können“, so der Propst.
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