Gelsenkirchen. Vor zwei Jahren gab es den ersten Corona-Fall. Hart traf es auch eine Gelsenkirchener Yoga-Lehrerin – die nun eine Long-Covid-Therapie erarbeitet.

Vor genau zwei Jahren, am 27. Januar 2020, wurde in Deutschland der erste Corona-Fall diagnostiziert. Seitdem haben sich etwa neun Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. Experten rechnen damit, dass zwischen 30 und 50 Prozent der Covid-Patienten anschließend unter Long-Covid leiden – so wie Annika Wahl aus Gelsenkirchen. Das ist ihre Geschichte.

Hanno Irle steht zwei Meter vor Annika Wahl. Sie schaut konzentriert. Vor ihren Füßen kleben bunte Zettel auf dem Boden. Der Physiotherapeut wirft der 39-Jährigen einen Tennisball zu, sagt „Rechts!“. Annika Wahl fängt den Ball mit der linken Hand, stellt gleichzeitig den rechten Fuß auf den grünen Zettel – genau so war das vorher abgesprochen. „Gut“, sagt Irle und fängt den Ball wieder auf. Was wie ein Spiel anmutet, hat einen ernsten Hintergrund: Annika Wahl, im Hauptberuf Yogalehrerin, hat sich im November 2020 mit Corona infiziert und leidet seitdem an Long Covid. Gemeinsam mit zwei Physiotherapeuten hat sie jetzt ein Therapieprogramm entwickelt, mit dem nicht nur ihr, sondern vor allem auch anderen Long-Covid-Patienten geholfen werden kann. Diese Übung ist ein Teil davon.

Annika Wahl erlebte einen schweren Verlauf: Während ihr Ehemann, der sich zeitgleich infiziert hatte, „nur“ grippeähnliche Symptome entwickelte, musste sie im Krankenhaus behandelt werden. Sie ist überzeugt, dass nur die Atemtechniken, die sie während ihrer Ausbildung zur Yoga-Lehrerin erlernt hatte, sie davor bewahrten, an die Beatmungsmaschine angeschlossen zu werden. Nach einigen Tagen konnte sie das Krankenhaus wieder verlassen, mit den Spätfolgen der Krankheit hat sie aber noch heute zu kämpfen. [Lesen Sie auch: Lollitests-Chaos: „Wir fühlen uns wie Versuchskaninchen“]

Unter diesen Symptomen leidet die Gelsenkirchenerin

Gemeinsam gegen Long-Covid: Yogalehrerin Annika Wahl und die Physiotherapeuten Sandra Passenberg und Hanno Irle (v.l.).
Gemeinsam gegen Long-Covid: Yogalehrerin Annika Wahl und die Physiotherapeuten Sandra Passenberg und Hanno Irle (v.l.). © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

„Die Symptome sind vielfältig“, sagt sie. Noch immer kämpfe sie mit Atemschwierigkeiten, Muskelschmerzen und Konzentrationsverlust. „Am Anfang hatte ich große Schwierigkeiten, mich in einem vollen Raum auf ein Gespräch zu konzentrieren, mit einer Gruppe von Menschen war ich völlig überfordert.“ „Brain fog – Gehirnnebel“ wird dieses Problem treffend umschrieben. Das habe sich zum Glück wieder gebessert. Auch habe es Monate gedauert, bis sie ihren Geschmackssinn wiederfand.

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Ihr Problem, das sie aktuell mit ganz vielen Menschen teilt: Long Covid ist eine neue Krankheit, über die noch nicht allzu viel bekannt ist. Auch viele Ärzte sind sich noch unsicher, wie damit umzugehen ist. Dazu kommt, dass die Bandbreite der Symptome enorm ist. Eine Therapie zu finden, die hilft, stellt die Patientinnen und Patienten vor große Schwierigkeiten. Das musste auch Annika Wahl erfahren.

Nach mehreren Versuchen landete sie in der Physiotherapiepraxis von Hanno Irle, dem Reha-Zentrum Horst & Buer. „Hier hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass mir geholfen wird“, erinnert sie sich. Sie nennt ein Beispiel: „Ich wusste zwar, welche Atemtechnik mir gegen die Atemnot helfen könnte – allerdings war mein Zwerchfell verklebt. Hier konnten die Physiotherapeuten mir helfen.“

Mit diesem Programm soll Gelsenkirchener Patienten geholfen werden

Die Therapie tat der 39-Jährigen gut – und so entstand die Idee, gemeinsam mit Hanno Irle und der Physiotherapeutin Sandra Passenberg ein Programm für alle Long-Covid-Patienten zu entwickeln, das die Vorzüge von Yoga und Physiotherapie vereint und das die individuelle Situation jedes Patienten berücksichtigt. „C-BRA-Therapie“ nennt sich das: Die Abkürzung steht für „Covid-19, Bewertung, Rekonvaleszenz, Anfang“. Rekonvaleszenz heißt so viel wie „Genesung, Heilung“.

Damit ist das Programm auch schon gut zusammengefasst, wie Hanno Irle erläutert. „Am Anfang schauen wir uns jede Patientin intensiv an und entscheiden je nach ihrer individuellen Verfassung, ob sie zunächst noch Einzeltherapie braucht oder schon für die Gruppentherapie geeignet ist.“ Die Gruppentherapie sei das Ziel für jeden Patienten: Sie besteht aus Übungen zur Koordination und Konzentration, zu Gleichgewicht, Ausdauer und Kraft. Konzentrations- und Koordinationsübungen wie die mit dem Tennisball können Long-Covid-Patienten zunächst ganz schnell an ihre Grenze führen, wie Annika Wahl bestätigt: „Am Anfang war ich nach einer Minute völlig fertig“, sagt sie. Inzwischen habe sich aber bei ihr eine deutliche Verbesserung eingestellt: „An guten Tagen bin ich wieder bei 87 Prozent meiner Vor-Corona-Leistungsfähigkeit“, sagt sie.

Mehr Infos im Internet

Long-Covid kann sehr unterschiedliche Symptome aufweisen: von schwerwiegenden Lungenschäden bei hospitalisierten Patienten über Entzündungsreaktionen und Veränderungen an verschiedenen Organen bis zu kognitiven Einschränkungen, Atemnot und Fatigue. Möglich sind auch Schäden am Herzen sowie Veränderungen am Gehirn. Mehr Infos zum Therapieprogramm gibt es im Internet unter www.c-bra-therapie.de, oder per Telefon unter 0151 588 59 477.

Idealerweise kommen Patientinnen und Patienten dreimal in der Woche zur Therapie: zweimal in die Physiotherapiepraxis an der Horster Straße, einmal in Annika Wahls Yogastudio „Yogastreet“ in Erle. Einen Haken gibt es aber: Bislang wird die Therapie noch nicht von den Krankenkassen finanziert.