Gelsenkirchen. Industriebetriebe suchen dringend Fachkräfte und zahlen Wechslern sogar Prämien. Wie der Gelsenkirchener Arbeitgeberverband die Lage einschätzt.
Es gibt Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, die schienen so vor wenigen Jahren kaum vorstellbar. Damals wurde bereits von manchen mantraartig vor drohendem Fachkräftemangel gewarnt. Doch 2021 machte er sich erstmals auch im Emscher-Lippe-Raum drastisch bemerkbar. „Wir haben einen Arbeitnehmermarkt“, stellt Michael Grütering, Geschäftsführer der hiesigen Arbeitgeberverbände und in Personalunion Hauptgeschäftsführer der Düsseldorfer Arbeitgeberverbände fest. „In manchen Industriebetrieben haben wir Eigenkündigungen von bis zu 20 Prozent. Das haben wir so noch nie erlebt.“ Sprich: Beschäftigte orientieren sich neu, suchen für sich attraktivere Stellen – und finden sie offensichtlich auch.
Gelsenkirchener Firmen sind bestrebt, ihre Fachkräfte auf jeden Fall zu halten
Weitere Indizien für die veränderte Situation nennt Grütering. „Es werden Prämien ausgelobt für Mitarbeitende, die im eigenen Familien- oder Bekanntenkreis Fachkräfte für ihren Betrieb anwerben. Die Unternehmen haben klar ihre Anstrengungen erhöht, Beschäftigte im Betrieb zu halten.“ Weiteres Thema: Dieser Industrieberuf ist (noch) ein Geheimtipp
Langfristig wird das nur ein Teil der Lösung sein. Um Engpässen nachhaltig zu begegnen, so Grütering, helfe nur verstärkte Ausbildung. „Die Firmen kriegen die nötigen Leute sonst nicht.“ Lesen Sie auch: Zu wenig Ausbildungsplätze in Gelsenkirchen und Bottrop
Die Jobentwicklung zählt zum Jahreswechsel zu den Problemen, die Arbeitgeberverbände wie Unternehmer nach dem zweiten Corona-Jahr beschäftigen. Sie sind allerdings nur Teil eines Sorgen-Gesamtpakets.
Rohstoffpreise und Energiekostensituation sehen Betriebe als Konjunkturrisiken
Anhaltende Lieferketten- und Logistikprobleme sowie die derzeitige Rohstoff- und Energiekostensituation (Grütering: „Die Preisentwicklung hat einigen die Füße weggetreten“) sind aktuell die größten konjunkturellen Risiken. Das geht aus den Daten der jüngsten Konjunktur-Prognosen der Arbeitgeberverbände Ruhr/Westfalen hervor. „Wer gedacht hätte, dass die Industrie 2022 endlich durchstartet, wird sich gedulden müssen. Dafür haben die Unternehmen derzeit mit zu vielen Unwägbarkeiten zu kämpfen“, sagt Dirk W. Erlhöfer, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände Ruhr/Westfalen.
Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe vertreten 480 Betriebe mit knapp 50.000 Beschäftigten
Deren 430 vorwiegend industriell geprägte Mitgliedsunternehmen erwarten einen verhaltenen Jahresstart. Zwar steigen die positiven Geschäftserwartungen im Vorjahresvergleich leicht (von 63 auf 67 Prozent), doch ihre Ertragsprognosen (61 gegenüber 65 Prozent im Vorjahr) sinken sogar.
Die Einschätzung deckt sich größtenteils mit der Bewertung der Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe, die 480 Betriebe mit knapp 50.000 Beschäftigten vertreten. „Die Firmen sind verhalten optimistisch“, sagt Grütering. Die Betriebe signalisierten zwar auch Lieferkettenprobleme. Doch insgesamt sei die Auftragslage gut. Entsprechend rechnet der Geschäftsführer ab dem zweiten Quartal 2022 durchaus mit einer positiveren Gesamtbewertung. Lesen Sie auch:Grütering: Wir müssen mehr tun als andere Regionen
Sorgen bereitet Grütering die Situation bei Uniper. Hunderte Stellen bei den beiden lokalen Technik-Dienstleistungstöchtern des Konzerns stehen zur Disposition. Die Ingenieure und Facharbeiter, ist der Geschäftsführer sicher, „werden wieder Arbeit finden“. Sehr fraglich sei nur, ob auch in Gelsenkirchen. Lesen Sie auch:Job-Ängste: 600 Stellen an zwei Gelsenkirchener Uniper-Standorten bedroht
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Mehr Aktivitäten im Netz
Auch die Verbands-Aktivitäten haben sich in der Pandemiezeit verändert. Im Sitz an der Zeppelinallee wurden die Aktivitäten stark zurückgefahren. Die Betreuung und Beratung der Unternehmen vor allem beim Arbeits- und Tarifrecht läuft zwar unverändert, aber vielfach eben digital.Seminare wurden weitgehend ins Netz verlegt – durchaus mit positiven Folgen. „Bei manchen Angeboten haben wir die doppelte Teilnehmerzahl im Vergleich zu vorher“, stellt Grütering fest. Dennoch vermisst nicht nur er Direktkontakte. „Vielfach bleibt der Austausch auf der Strecke.“
Insgesamt, findet Grütering, habe sich die Gelsenkirchener Wirtschaft auch in diesem zweiten Corona-Jahr gut und wohl auch besser als von vielen befürchtet behauptet. „Es ist eigentlich bewundernswert, wie die Firmen das trotz der ganzen Problematik hingekriegt haben“ – wohl wissend, dass die Industrie („die konnten in der Regel voll weitermachen“) längst nicht so betroffen war wie der Einzelhandel, die Gastronomie oder Veranstaltungsbranche.
Grütering zu Corona-Folgen: Fehlquoten haben deutlich zugenommen:
Die Corona-Pandemie erzeugt aus Sicht von Michael Grütering, Geschäftsführer der Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe, auch durchaus bemerkenswerte Entwicklungen in Betrieben. Dort registriert er zunehmend Probleme mit Ungeimpften, die sich nicht dauernd Tests unterziehen wollen. Stattdessen „flüchten sie temporär in die Arbeitsunfähigkeit“, so Grütering. Sprich: Die Krankmeldungen hätten zugenommen. „Da haben wir Fehlquoten von deutlich über zehn Prozent“, behauptet der Geschäftsführer.
Und auch das gibt es angeblich zunehmend: Mitarbeitende, die mit gefälschten Impfzertifikaten auffallen. Konsequenzen zu ziehen, so Grütering, sei für die Unternehmer schwierig. „Sie brauchen die Leute.“
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