Gelsenkirchen. Betroffene einer Binge-Eating-Störung stehen unter hohem Leidensdruck – was drei Gelsenkirchenerinnen über ihren Alltag erzählen.

„Immer, wenn es mir schlecht ging, habe ich gegessen“, sagt Andrea Schmidt*. „Es ist wie eine Sucht, ich bin süchtig nach Essen“, sagt die Gelsenkirchenerin auch. Wir treffen die 49-Jährige an diesem Abend in Bismarck, sie will reden über das, was sie beschäftigt, ihr Leben bestimmt, seit vielen Jahren: Andrea Schmidt leidet unter der Essstörung „Binge Eating“.

Gelsenkirchen: So leben drei Frauen mit ihrer Binge-Eating-Störung

Exzessiv, übermäßig, riesige Mengen, ohne Kontrolle – das sind die Begriffe, die sofort erscheinen, wenn man eben jene Essstörung in die Suchmaschine eingibt. Dahinter stehen Menschen, die unter einem enormen Leidensdruck stehen. Und es sind viele.

Andrea Schmidt sei schon als Kind übergewichtig gewesen, erzählt sie im Gespräch; sie hat früh auf ihre Figur geschaut, fühlte sich von den Eltern getrieben, wurde gemobbt. Sie startet schnell mit mehreren Diäten, das Gewicht soll schließlich runter. Sie nimmt ab, doch bald darauf wieder zu. Das geht so, immer wieder. Und immer wieder nimmt sie weiter zu.

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Was genau sie isst, kann die Ückendorferin noch nicht einmal sagen – es ist mal die Tüte Chips, die sie innerhalb kürzester Zeit leert, dann können auch mal Mengen an Gemüse dabei sein. „Es gibt gute und schlechte Lebensmittel“, so ordnet Andrea Schmidt es schon ein. Aber in der Fress-Attacke selbst, da kommt es kaum auf Unterschiede an. Ohne Kontrolle. In diesen Momenten is(s)t Andrea Schmidt immer allein.

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So wie Nadine Krause*. Die junge Frau aus Hassel ist an diesem Abend auch gekommen, nach Bismarck. „Ich esse nur, wenn ich alleine bin“, sagt sie. Und meint damit nicht die normale Nahrungsaufnahme, das Frühstück, Mittag-, oder Abendessen. Sie meint damit ihre intimen, vom Kontrollverlust geprägten Binge-Eating-Momente. Warum sie lieber alleine sein möchte? „Weil ich mich ekelig dabei finde“, sagt die 28-Jährige ganz offen. Sie habe Angst vor dem Fingerzeig, will nicht verurteilt werden – was für ein Druck.

Sie sei schon immer essgestört gewesen, in der Jugend etwas übergewichtig, doch in den vergangenen „zehn Jahren hat es sich extrem entwickelt“. Von einer Regelmäßigkeit, in denen die Attacken auftreten, kann Nadine Krause nicht berichten. Auch was die Wahl der Nahrungsmittel angeht, ist sie nicht festgelegt. Hauptsache viel, gnadenlos viel, in für sie schweren Momenten.

Binge Eating: Rauschhaftes Essen um aus den Emotionen herauszukommen

Wenn Yvonne Humpert, die wir auch schon an anderer Stelle kennengelernt haben, ihre persönliche Sicht auf das nahezu rauschhafte Essen schildert, stimmen ihr Andrea Schmidt und Nadine Krause zu: „Es ist da diese Abhängigkeit, ich falle immer wieder in die gleichen Muster.“ Was treibt die 42-Jährige in diesen Momenten an? Sie tut es, um „aus den Emotionen für einen Moment herauszukommen, man fühlt sich ein Stück weit besser“, sagt sie. Bis die Übelkeit kommt.

Seit neun Monaten, so Yvonne Humpert, sei sie „clean“. Und sie klingt dabei auch ein bisschen stolz. Dass sie rückfällig wird, ihre Droge Essen wieder unbedingt braucht, damit es ihr besser geht: Sie kann es nicht ausschließen.

Wann sich die Selbsthilfegruppe „Binge Eating“ trifft

Die Selbsthilfegruppe „Binge Eating“ trifft sich an jedem zweiten und vierten Mittwoch im Monat, jeweils in der Zeit von 18 bis 19.30 Uhr. Das nächste Treffen findet am 13. Oktober statt.Treffpunkt ist der Katholische Stadtteilladen am Ahlmannshof 26 in Bismarck. Kontakt und weitere Informationen gibt es unter 0152/52066420, per Mail unter addi-shg-ge@web.de oder bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle Gelsenkirchen unter 0209/9132810 oder per E-Mail unter selbsthilfe.ge@paritaet-ge.de .

Essen ohne Ende – sind die Frauen nicht irgendwann satt? Sie verneinen. Das Völle-, das Sättigungsgefühl werde einfach ignoriert, berichten die drei Frauen, oder schlicht nicht mehr wahrgenommen. „Ich habe das Gefühl, dass mein Magen schon ausgeleiert ist“, sagt Andrea Schmidt ganz offen. Anders als bei Bulimie kommt es beim Binge Eating nicht zum kontrollierten Erbrechen nach dem Essen.

Dabei entfacht diese Störung einen enormen Sog, entstanden aus Druck, Verlangen, aus Sucht, wenig bis gar keiner Selbstliebe, aus Furcht vor zu viel Kalorien.

Gelsenkirchens erste Binge-Eating Selbsthilfegruppe: Austausch als Unterstützung

Doch genau diese Sucht nach Essbarem, ihr Umgang mit der Essstörung, ihr Leben damit, all das führt die drei Frauen auch zusammen. Sie sind Teil der ersten Binge-Eating-Selbsthilfegruppe Gelsenkirchens, die von Andrea Schmidt Ende 2019 ins Leben gerufen wurde. Es war die Suche nach Unterstützung, die Hoffnung auf Austausch – hier haben sie ihn gefunden.

Dr. Christian Springer hat die ersten Momente der Gruppe begleitet. Der Gelsenkirchener Allgemein- und Ernährungsmediziner kann Zahlen liefern: Im Jahr 2019 waren 20 Prozent der Menschen in Deutschland adipös. Von ihnen haben fünf bis 30 Prozent eine Binge-Eating-Störung. Umgekehrt hat aber nur die Hälfte aller von Binge Eating Betroffenen Adipositas. Der Männeranteil liegt bei 25 Prozent, somit ist Binge Eating die häufigste Essstörung bei Männern. Häufig haben die Viel-Esser auch noch weitere psychische Probleme, wie beispielsweise Phobien, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen. [Lesen Sie aus unserem Archiv:Selbsthilfegruppe bei Binge Eating in Gelsenkirchen geplant]

Binge Eating: eine unterschätzte und im Verborgenen stattfindende Krankheit

Hinzu kommt: Binge Eating ist eine unterschätzte und weitgehend im Verborgenen stattfindende Krankheit. „In der Arztpraxis kommt das nicht ganz so leicht zur Sprache“, berichtet Christian Springer aus seinem Alltag. Zu groß ist oftmals das Schamgefühl, um sich überhaupt zu öffnen. Zu groß der Antrieb, sich heimlich, ohne Gesellschaft, den Fress-Attacken hinzugeben.

Auch Therapiemöglichkeiten zu finden, sei nicht leicht, so Springer weiter. Der Besuch einer Selbsthilfegruppe sei ein guter Bestandteil zur Unterstützung der Patienten, sagt der Allgemeinmediziner auch. Denn der Austausch untereinander, er lasse die Betroffenen eine ganze Menge über die Erkrankung lernen. „Sie erfahren Zuspruch und es gibt innerhalb der Selbsthilfegruppen eine hohe Kompetenz im Detail.“ Das ist es auch, was Andrea Schmidt, Nadine Krause und Yvonne Humpert so zu schätzen wissen. Einhergehend mit dem sicheren Gefühl: Ich bin mit meinem Leiden nicht alleine.

* Name geändert, der richtige Name ist der Redaktion bekannt