Frank Baranowski, langjähriger Oberbürgermeister Gelsenkirchens, erlebte die Anschläge vom 11. September 2001 in Washington. Seine Erinnerungen:
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 veränderten nicht nur die USA nachhaltig, sondern nahezu die ganze Welt. Noch heute – 20 Jahre danach – wissen die meisten Menschen genau, wie und wo sie die unfassbar grausamen Bilder verfolgten, die unendliches Leid, Kriege und einschneidende gesellschaftliche Veränderungen zu Folge haben sollten. Frank Baranowski, 16 Jahre lang Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen, war an jenem alles verändernden Tag als damals 39-jähriger Landtagsabgeordneter besonders nah dran am Schmerz der Amerikaner.
Zwei Jahrzehnte danach erinnert sich Baranowski im WAZ-Gespräch an die Szenen, die er aus irgendwelchen Krimis kannte, wie er sagt, „nur dieses Mal war das ganze keine Fiktion, sondern brutale Wirklichkeit.“
Ein Gastbeitrag von Frank Baranowski:
Die Reise damals in die USA ging zurück auf eine Einladung der US-Regierung. Es handelte sich um ein Besuchsprogramm für Nachwuchspolitiker, thematischer Schwerpunkt der Reise war das Thema Zuwanderung und Integration in den USA.
Die Reise umfasste Gespräche mit Ministerien, Wissenschaftlern, Bürgerrechtsorganisationen usw. und begann am 10. September 2001 in Washington DC und führte uns danach nach Atlanta, Des Moines, San Diego und New York City.
Auf dem Programm des 11. September stand als erstes ein Gesprächstermin im U.S. Department of Labor, (Arbeitsministerium), das sich im Regierungsviertel schräg gegenüber des Kapitols befindet. Es war ein wunderschöner Herbsttag mit strahlend blauem Himmel. Ich benutzte die U-Bahn, um von meinem Hotel zum Ministerium zu gelangen. Schon nach Verlassen der U-Bahn meldete sich meine damalige Wahlkreismitarbeiterin telefonisch und fragte mich, ob es mir gut ginge.
Ich konnte mit dieser Frage zu diesem Zeitpunkt noch so gar nichts anfangen. „Warum soll es mir nicht gut gehen“, fragte ich zurück. Ihre Antwort: „Ja wegen der Vorkommnisse in New York.“ Ich: „Naja, ich bin in Washington, New York ist weit entfernt.“ Noch ahnte ich nicht, was wirklich geschehen war.
„Zwischen den Autos liefen FBI-Agenten mit schusssicheren Westen und gezogener Pistole“
Im Arbeitsministerium selber traf sich unsere Gruppe, kurz nach Passieren der Sicherheitsschleuse ertönte ein ohrenbetäubender Alarm. Die Lautsprecheransage war sehr eindeutig: Das Gebäude musste sofort verlassen werden.
Erst zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich eine Menschenmenge um einige Fernsehmonitore, auf denen Ministeriumsmitarbeiter mit Fassungslosigkeit die Bilder des brennenden World Trade Centers in New York mitverfolgten. Kurz danach mussten wir auch schon mit vielen anderen das Ministerium verlassen. Die vierspurige Straße vor dem Ministerium, die Constitution Avenue, war von Autos Stoßstange an Stoßstange völlig verstopft. Nichts ging mehr. Zwischen den Autos liefen FBI-Agenten mit schusssicheren Westen und gezogener Pistole über die Straße. Ich kannte solche Szenen aus irgendwelchen Krimis - nur dieses Mal war das ganze keine Fiktion sondern brutale Wirklichkeit.
Wohin gehen in einer solchen Situation?
Wir überquerten die Straße und landeten auf der Wiese vor dem Kapitol. Die Nachrichtenlage war völlig chaotisch, ein Gerücht jagte das andere. Eines davon: Angeblich seien Terroristen im Regierungsviertel unterwegs. In der Ferne war eine Detonation zu hören (wie sich später herausstellte, stürzte eines der entführten Flugzeuge in das Pentagon). Wir blieben einstweilen auf der Wiese vor dem Kapitol. Mein Versuch, nach Hause zu telefonieren, scheiterte: das Handynetz war komplett überlastet.
Mehr und mehr Menschen trafen auf dieser Freifläche vor dem Kapitol ein, bis stark bewaffnete Polizeikräfte erschienen, die diese Wiese Stück für Stück räumten. Auf Nachfrage wurde uns erklärt, ein Flugzeug sei möglicherweise auch unterwegs mit dem Ziel Kapitol oder Weißes Haus.
Heute ist mir klar: Wer weiß, was geschehen wäre, hätten nicht mutige Passagiere den für das Kapitol vorgesehenen Flug United 93 in Pennsylvania zum Absturz gebracht. Womöglich verdanke ich diesen Menschen mein Leben.
Also was tun in einer solch unüberschaubaren Situation? Ich entschied mich, ins Hotel zurückzukehren. Auf den Straßen gab es kein Durchkommen, der U-Bahnverkehr war eingestellt. Also zu Fuß zurück. An den Straßenkreuzungen war Militär aufgefahren - ein Bild, das ich bisher aus den USA nicht kannte. Weinende Menschen im Stadtbild. Und immer wieder in den Fernsehern Live-Übertragungen mit den Bildern aus New York bzw. dem zerstörten Pentagon.
„In den wenigen Tagen nach dem 11. September lernte ich ein anderes New York kennen“
Nach einer Stunde Fußmarsch erreichte ich mein Hotel. Der Himmel war immer noch strahlend blau. Noch konnte ich nicht ahnen, wie sich seit diesem Morgen die USA, ja die ganze Welt verändern würden.
Eine Woche später brachte uns die Reise auch nach New York. Ich kannte New York bereits von vorhergehenden Besuchen: laut und anonym. In den wenigen Tagen nach dem 11. September lernte ich ein anderes New York kennen. Kein Hupen, kein Lärm, bemerkenswert auch die Menschen, die sonst an einem vorbei gesehen haben und jetzt einen ansahen, grüßten, lächelten. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich zum Ground Zero, also dem Ort wo das World Trade Center in Trümmern lag, gehen wollte oder nicht. Ich entschied mich dann aber dagegen angesichts der vielen Toten. Für mich jedenfalls war es keine Touristenattraktion.