Gelsenkirchen. Die Ausstellung auf Zollverein widmet sich Joseph Beuys zum 100. In Gelsenkirchen haben seine Ideen Schüler-Leben und Kunst nachhaltig geprägt.

Es sind diese Bilder, die von Aufbruch, von Veränderung, ja von Befreiung und Erweiterung des eigenen Horizonts künden. Mittendrin: Joseph Beuys, als Lehrer, als Impulsgeber für einen wild gewürfelten Haufen Jugendlicher und junger Erwachsener. An einer Schultafel steht „Kunst ist, wenn man trotzdem lacht“. Für Beuys gehörte der Spaß zur Aktion. Die Stimmung hat etwas von einem Happening. Kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und der Politik forderte der Aktionskünstler – und es wirkt, als seien sich alle im Moment der Aufnahme der Besonderheit des Augenblicks bewusst.

Am Gelsenkirchener Grillo traf Joseph Beuys auf aufmerksame Zuhörer

Protest von einst: Künstler wie Johannes Stüttgen und auch Joachim Weber wirkten an der Ausstellung 2010 im Bahnhofscenter mit, die sich mit der Free International University (FIU) und der Fluxus Zone West Gelsenkirchen beschäftigte und deren Werke aus den 1970er und 80er Jahren zeigte.
Protest von einst: Künstler wie Johannes Stüttgen und auch Joachim Weber wirkten an der Ausstellung 2010 im Bahnhofscenter mit, die sich mit der Free International University (FIU) und der Fluxus Zone West Gelsenkirchen beschäftigte und deren Werke aus den 1970er und 80er Jahren zeigte. © Funke foto Services | Martin Möller

Die Bilderserie ist im März 1979 in den – von der Kunst AG okkupierten – Grillo-Baracken, entstanden. Joseph Beuys, der umtriebige, streitbare, visionäre Künstler, der den bundesdeutschen und internationalen Kunstbetrieb mit seiner Idee von der Sozialen Plastik als Gesamtkunstwerk so nachhaltig wie wenige andere durchrüttelte, für den Bildung, direkte Demokratie und Ökologie so wichtig waren, besuchte die Kunst-AG und die Freie Internationale Universität. Es war keine einmalige Aktion. Zwischen Joseph Beuys und Gelsenkirchen, besser dem Grillo-Gymnasium, gab es eine feste, prägende Verbindung, die bis zur Documenta nach Kassel und 2021 zu Beuys` 100. nach Essen in die Halle 8 auf Zollverein führt. Weitere Protagonisten: Ein Kunstlehrer – der Beuys-Akademieschüler Johannes Stüttgen. Und Joachim Weber, damals Unterprimaner und gerade mal 17 Jahre alt.

Für die Ausstellung „Die unsichtbare Skulptur - Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys“ zählte Weber, mittlerweile 67, zum kuratorischen Team und den Herausgebern des umfangreichen Katalogs. Für die Zollverein-Schau hat er die Grillo-Jahre und Beuys` direktes und indirektes Wirken in Gelsenkirchen aufgearbeitet. Die alte Transformator-Halle in Essen, findet Weber, passe vom Charakter her gut zu den Arbeiten. „Für Beuys war ein ganz wesentlicher Begriff die Transformation. Daher ist das ein wirklich glücklicher, guter Ort. Er ist auch ideal, um dort unsere Aktivitäten aus Gelsenkirchen zu zeigen“.

Joachim Weber zählt zu den Herausgebern des umfangreichen Katalogs

Die Aktivitäten aus Gelsenkirchen: Im üppigen Band zur Ausstellung nehmen sie breiten Raum ein – auf gut 20 Seiten, mit vielen Bildern von Demonstrationen, von frühem Punk, ernsthafter Diskussion und fröhlicher Rebellion, die über Gelsenkirchen hereinbrachen. Das ikonische Einbandfoto zeigt die Situation am Grillo. Eben Beuys in seinem Element als Lehrender, als Anstifter zum Neu-Denken in einer Zeit der Veränderungen, der mit Fluxus-Aktionen, Installationen und Performances, mit Fett und Filz, roten Nelken und toten Hasen so radikal mit den gängigen Kunstvorstellungen brach.

Performances und Aktionen mit Fett und Filz, roten Nelken und toten Hasen

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„Am Schalker Gymnasium gab es damals einen der ersten Schulstreiks in Deutschland. Das war eine bewegte Zeit. Ich war zwar zu jung, um die 68er bewusst erlebt zu haben“, doch seien die politischen und gesellschaftlichen Nachwehen deutlich zu spüren gewesen wie auch das zunächst noch zarte Aufbegehren der Jugend gegen Instanzen und Autoritäten. „Das Attentat auf Rudi Dutschke und der Prager Frühling waren auch bei uns große Themen“, erinnert sich Weber. „Das ging nicht spurlos an uns vorüber.“

Die Lehrprobe, der er sich 1973 unterziehen musste, verwandelte Johannes Stüttgen zur Kunstaktion „Melencolia I“
Die Lehrprobe, der er sich 1973 unterziehen musste, verwandelte Johannes Stüttgen zur Kunstaktion „Melencolia I“ © Unbekannt | Peter Müller

Dem gegenüber standen etliche Lehrkräfte, für die Zucht und Gehorsam Basis der Erziehung waren, die Schläge als pädagogische Maßnahme selbstverständlich einsetzten und roh und gewaltig zulangten. „Unserer Lehrer waren wirklich noch von der alten Garde. All das erklärt, warum sich geistig für die Unterprima eine Welt öffnet, als Johannes Stüttgen diesen schulischen Mikrokosmos aufmischte.

Es mangelte an Kunsterziehern, deshalb konnten sich Kandidaten ohne Staatsexamen an den Schulen bewerben, die Kunst studiert hatten. Dabei kam Joseph Beuys ins Spiel. Schon wieder: Beuys hatte bereits Franz Joseph van der Grinten, Kunsthistoriker und Künstler, vor allem aber sehr früh schon großer Beuys-Sammler, als Kunsterzieher ans Grillo vermittelt. Von 1965 bis 1971 arbeitet er dort, 1966 besuchte Beuys das Gymnasium. Sein Vortrag drehte sich damals um den bekanntesten Satz zu Beuys’ Kunstbegriff: „Jeder Mensch ist seiner Natur nach ein Künstler“. Als sich van der Grinten beruflich veränderte, fragte er seinen Jugendfreund und Förderer Beuys, ob er einen Stellen-Nachfolger wüsste. Das war schließlich Johannes Stüttgen.

Beuys vermittelte erst van der Grinten, dann Stüttgen als Kunsterzieher

Von der Düsseldorfer Kunstakademie kam Stüttgen, zuvor Tutor der Beuys-Klasse, Meisterschüler und AStA-Vorsitzender, nach Gelsenkirchen. Stüttgen elektrisierte, wie er später selbst schrieb, „das Ruhrrevier, der Pott, Elvis, Rock’n’Roll, das Nichts, das Vakuum“. Der Kunsterzieher „fühlte sich von Gelsenkirchen angezogen. Ihn interessierte besonders, was andere abschreckte“, sagt Joachim Weber. Und: „Bald dämmerte es der Schulleitung, dass sie jemanden an die Schule geholt hatte, der das ganze in Frage stellte. Stüttgen sah seine Arbeit als neunjährige Aktion, mit der er auch seine eigene neunjährige Schulzeit aufarbeitete.“

„Elvis, Rock’n’Roll, das Nichts, das Vakuum“ reizte in Gelsenkirchen

„Von Anfang an war eine große Nähe da. Johannes Stüttgen fiel allein schon durch sein Aussehen auf. Und sein Unterricht unterscheid sich radikal. Wir fanden: Der Neue ist cool. Da kannst du machen, was du willst… aber alle machten eben auch was“, sagt Weber. Das Engagement ging über die Unterrichtsstunden hinaus. Besuche der Kunstakademie Düsseldorf oder Schüleraktionen gehörten bald zum Unterricht. Stüttgen gründete die Kunst-AG am Grillo. „Besonders war, dass sie allen offen stand“, erinnert sich Weber. Und auch Stüttgen holte Beuys ans Grillo, öffnete Herzen und Hirne für dessen Gegenwartskunst und seinen Kunst-Idee der Sozialen Plastik, der Teilhabe.

„Gelsenkirchen, Stadt der 1000 Feuer - aber in den Herzen der Menschen“: Documenta-Aktionstag der Fluxus Zone West - mit Joseph Beuys auf der Leiter. 
„Gelsenkirchen, Stadt der 1000 Feuer - aber in den Herzen der Menschen“: Documenta-Aktionstag der Fluxus Zone West - mit Joseph Beuys auf der Leiter.  © Unbekannt | Mathias Jakobs

Die Kunst AG wurde später Teil der FIU, der „Free International University“. Beuys hatte sie zur Documenta, spektakulär war seine dort installierte, ununterbrochen zirkulierende Honigpumpe, ausgerufen. 100 Tage lang veranstaltete er von morgens bis abends ein permanentes Seminar. Für Stüttgen und seine Schüler, die selbst ernannten Kunst-Akteure der „Fluxus Zone West“, wurde Kassel zum Kult-Ort, das Grillo wurde FIU-Außenstelle. Stüttgen setzte schließlich die FIU-Arbeit bis 1986 als Geschäftsführer fort.

Als Stüttgen kurz vor dem Rauswurf stand

Beuys, der konfrontativ den etablierten Düsseldorfer Akademiebetrieb aufmischte und - unter anderem als Protest gegen das Bewerbungsverfahren – mit Studenten mehrfach das Sekretariat der Akademie besetzte, verlor 1972 vorübergehend Professur und Lehrtätigkeit. Auch Stüttgen stand am Grillo kurz vor dem Rauswurf. Ein Foto, das bei einer Protestaktion gegen den Rausschmiss von Beuys entstand und an das letzte Abendmahl erinnert, erschien seinen Kritikern anstößig. Er musste sich einer Lehrprobe unterziehen. Der Prüfer stieß auf einen Kunsterzieher, der schweigend vor seiner Kunstklasse Platz nahm, sich in Positur setzte – und eine Schulstunde lang schwieg.

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Stüttgens Auftritt wurde als Modellsitzen für eine Zeichenstunde gewertet, der Schuljob war gerettet. Die Aktion ging als „Melencolia I“ in die Schul- und zumindest lokale Kunstgeschichte ein – wie auch etliche Ausstellungen, unter anderem in der Kunsthalle Bielefeld und gleich mehrfach im Gelsenkirchener Kunstmuseum, wo Arbeiten der Grillo-Akteure gezeigt wurden. Herausragend hier die Werkschau 1976 der „Fluxus Zone West“. Allein bei der Eröffnung drängten sich 600 Menschen in der Alten Villa. Beuys schickte zur Ausstellung ein Blatt mit einem Zeitungsfoto, dass ihn stehend in einer Badewanne zeigte. Beschriftet mit dem Satz: „Der Pharao im Geiste spricht – Erhebe dich im Gleichgewicht“.

Das Aufregungspotenzial der Fluxus Zone West war groß

Für Joseph Beuys wie für Johannes Stüttgen gilt: Das Aufregungspotenzial ihrer Aktionen war groß, in Düsseldorf wie in Gelsenkirchen. Aber Aufregung, findet Joachim Weber, „ist ein guter Einstieg, sie war immer mit der Einladung verbunden, mitzumachen, einzusteigen. Das kann man nicht hoch genug einschätzen. In dieser Schulphase sucht ja jeder. Und Schule hat noch heute Schwierigkeiten, darauf vorzubereiten, was danach kommt.“

Das Küchentheater 1978. Die Werbe-Postkarte hat Joseph Beuys mit einem Autogramm versehen. Joachim Weber gehörte zu der Theatergruppe und stand als Bongo Blutrausch (2.v.l.) auf der Bühne.
Das Küchentheater 1978. Die Werbe-Postkarte hat Joseph Beuys mit einem Autogramm versehen. Joachim Weber gehörte zu der Theatergruppe und stand als Bongo Blutrausch (2.v.l.) auf der Bühne. © Unbekannt | Knut Wolfgang Maron

Mit der Kunst kam – für Weber – nach dem Abi 1973 eine wilde, intensive, atemberaubende Zeit, die er als Bongo Blutrausch, sein Alter Ego auf der Bühne, vor allem beim Küchentheater erlebte, das von Buer aus den Bühnenaufstand probte. Die Off-Truppe tourte durch die Republik. „Wir haben in rappelvollen Sälen gespielt“, sagt Weber. Szenisches-Theater wurde hier zur Aktion, die Handlung entwickelte sich oft erst während des Spiels, die Dialoge auch. „Der Erfolg war unfassbar“, findet Weber, der sich auch als Sänger und Gitarrist versuchte, als Kommunarde lebte und sich später von den gerade erst als Partei aufkeimenden Grünen angesprochen fühlte. „Da war die ganze Palette vertreten, von der Öko-Bewegung bis zur Gewaltfreiheit, das war unsere Triebfeder.“

Den „erweiterten Kunstbegriff“ gelebt

Doch Weber, der mit dem Gedanken gespielt hatte, Sportlehrer zu werden, landete schließlich auch im Lehrberuf im künstlerischen Bereich. Weber unterrichtete an der Schule für körperliche und motorische Entwicklung in Herten. Ihn faszinierte, dass dort „jede Stunde letztlich anders war“ und in diesem schulischen Umfeld nie festen Lehrplänen folgen konnte, dass er sich in der Unterrichtssituation dort „in über 30 Jahren nie auf die reine Lehrerrolle reduziert sah.“

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Das Besondere an der Zeit war für Weber, dass man Menschen vor allem über ihre bleibenden Ideen erlebt hat. „Eine Idee, die man als richtig erkannt hat, wird man nicht los. Ich empfinde meine Arbeit als Lehrer tatsächlich als Umsetzung des erweiterten Kunstbegriffs“.

Unter anderem mit Johannes Stüttgen hat sich Weber für die Vorbereitung der Ausstellung auf Spurensuche begeben. „Das war ein überraschender Prozess“, sagt er. Im Team waren Beuys’ Wegbegleiter ebenso vertreten wie Menschen, die durchaus in kritischer Distanz zu ihm standen. Das war ein interessanter Gegenpol.“

Die Ausstellung „Die Unsichtbare Skulptur - Der Erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys“ ist 2021, in Beuys’ 100. Geburtsjahr, bis zum 26. September in Essen (Halle 8, Zollverein) zu sehen. Und auch Johannes Stüttgen hat, als Beuys-Schüler, -Freund- und -Erklärer wieder eine tragende Vermittlerrolle. Jeden Dienstag ab 18 Uhr bittet er auf Zollverein zum Ringgespräch in die Räume der Sonderausstellung.