Gelsenkirchen. Der Gelsenkirchener Politikwissenschaftler Matthias Lemke hat sich mit der deutschen Corona-Politik beschäftigt und kritisiert Merkel und Scholz.

Die Frage, die weite Teile der Gesellschaft wie kaum eine andere in der Coronakrise umtreibt, ist die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Wie sehr und wie lange darf Politik Freiheitsrechte einschränken, um die Gesundheit der Menschen zu schützen? Ist es richtig und angemessen, geimpften und geschützten Bürgern mehr Rechte zuzugestehen und wie überzeugend kommunizieren Spitzenpolitiker ihre Entscheidungen?

Der Gelsenkirchener Politikwissenschaftler Matthias Lemke hat sich in seinem Buch „Deutschland im Notstand? - Politik und Recht während der Corona-Krise“ mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt und berichtet im Gespräch mit unserer Redaktion von einer neuen Form des Notstands, die fortan Teil der bundesdeutschen Politik sein werde: dem „Gesundheitsnotstand“.

„Bisher kannten wir den Notstand, der durch innere oder äußere Krisen verursacht wurde. Die Pandemie hat nun eine neue Form hervorgebracht, in der es nötig ist, dass temporär freiheitsbeschneidende Maßnahmen zum Tragen kommen“, so Lemke.

„In Ausnahmezuständen öffnen sich autoritäre Gelegenheitsfenster“

Dass es in derlei Extremsituationen immer auch zu unterschiedlichen Strömungen in einer Gesellschaft kommt, in der sich die einen nach einem starken Anführer oder einer starken Anführerin sehnen, der/die Entschlossenheit demonstriert und im Zweifel zum Wohle aller kompromisslos handelt, während andere fürchten, die politisch Handelnden werden auch nach der akuten Bedrohung mit Krisen-Gesetzen vergleichsweise autoritär regieren, kann Lemke gut nachvollziehen.

„Beispiele gibt es für solche autoritären Gelegenheitsfenster jedenfalls einige“, sagt der Politikwissenschaftler und nennt etwa Frankreich und die Türkei.

Politikwissenschaftler und Autor Matthias Lemke hat sich intensiv mit der deutschen Corona-Politik befasst.
Politikwissenschaftler und Autor Matthias Lemke hat sich intensiv mit der deutschen Corona-Politik befasst. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Nach den Terroranschlägen am 13. November 2015 in Paris hat die Regierung zunächst Notstandsgesetze erlassen und diese zwei Jahre später in Anti-Terror-Gesetze umgewandelt. Damit können die Bewegungsfreiheit von Terrorverdächtigen grundsätzlich ohne richterliche Anordnung eingeschränkt und umfangreiche Polizeikontrollen angeordnet werden“, erinnert Lemke. Noch deutlicher sei die Entwicklung in der Türkei, wo nach dem Putschversuch 2016 Anti-Terror-Gesetze erlassen wurden, die den Gouverneuren weitestgehend die selben Befugnisse wie im Ausnahmezustand zusichern.

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Die Sorge, dass man in Berlin geneigt sein könnte, freiheitsbeschränkende Coronaschutzmaßnahmen in dauerhaftes Gesetz umwandeln zu wollen, hält der Gelsenkirchener Politologe indes für unbegründet. Weder die handelnden politischen Akteure seien für ein derart autoritäres Vorgehen prädestiniert, noch würde der deutsche Föderalismus dies so ohne weiteres zulassen.

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„Auch wenn Deutschland in der Akutphase der Pandemie in beeindruckender Geschwindigkeit den Gesundheitsnotstand eingeführt und angewendet hat, so ist die demokratische Substanz des Landes, trotz aller berechtigten Kritik an fragwürdigen Einzelentscheidungen insbesondere zu Grundrechtseinschränkungen, derzeit sicher nicht in Gefahr – es sei denn durch eine verschärfte Wiederkehr des Virus selbst“, so Lemke.

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Den Impf-Skeptikern und Kritikern der Schutzmaßnahmen hält Lemke entgegen, dass sie mitunter ein „naives Freiheitsverständnis“ hätten. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“, zitiert Lemke Artikel 2.1 des Grundgesetzes und meint damit, dass die Freiheit eines jeden dort endet, wo er die Unversehrtheit anderer gefährdet.

Es sei daher also mitnichten ungerecht, wenn geimpften und genesenen Menschen ein Umfeld geschaffen würde, indem das Risiko einer Corona-Infektion minimiert ist. Damit ist der 42-Jährige in seiner Argumentation auf einer Linie mit der Bundesregierung, die vollständig Geimpften und genesenen Menschen einige Corona-Beschränkungen erlassen will.

Kritik übt Lemke allerdings an der Krisenkommunikation. Während Merkels Rede zu Beginn der Pandemie noch beeindruckt habe, in der die Kanzlerin an die Verantwortung aller appelliert hatte, so frage sich der Politikwissenschaftler schon seit geraumer Zeit, „wo ist Merkel eigentlich, wenn es darum geht ein Maßnahmen-müdes Volk mit Argumenten zu überzeugen?“.