Gelsenkirchen-Erle. Dr. Kirchmeyer kritisiert, dass Personal in niedergelassenen Praxen nicht schon jetzt an der Reihe ist. Es sei sehr wohl systemrelevant

Bis 100 zählen: Zweitklässler kriegen das zumeist hin. Wie anstrengend das aber auch sein kann, bekommt Dr. Katja Kirchmeyer aus Gelsenkirchen-Erle derzeit zu spüren. Die Kinderärztin behandelt an ihren "langen" Arbeitstagen jeweils rund 100 kleine Patienten; mit Maske in Coronazeiten ein echter Marathon, verbunden mit einer besonderen Infektionsgefahr. Geimpft werden niedergelassene Ärzte wie sie wohl frühestens ab April/Mai - und das ärgert die Medizinerin maßlos.

"Dass wir und unsere Mitarbeiterinnen nicht der höchsten Priorisierungsstufe zugeordnet werden, ist ein Unding. Wir sind es schließlich, die das Gesundheitssystem jenseits der Krankenhäuser mit am Laufen halten", sieht sie ihren Berufsstand von der Politik übergangen. Laut NRW-Gesundheitsministerium haben in der ersten Phase allenfalls Krankenhaus-Ärzte mit sehr hohem Infektionsrisiko einen Anspruch auf die Impfung.

Niedergelassene Ärzte sehr wohl "systemrelevant"

Nicht als "systemrelevant" zu gelten: Das macht die 53-Jährige richtig wütend. Denn welche Folgen es für die Gesundheitsversorgung hätte, wenn niedergelassene Ärzte wegen einer Corona-Infektion reihenweise ausfielen, das mag sie sich gar nicht ausmalen. Zumal viele Mediziner wegen ihres Alters oder Vorerkrankungen oft selbst Sorge hätten, eine Ansteckung mit Covid-19 eben nicht so unbeschadet zu überstehen wie manch junger Mensch.

"Seit Beginn der Pandemie vor einem Jahr betreuen wir Kinder nicht nur medizinisch, sondern dienen auch als Anlaufstelle ratloser Eltern, die Hilfe beim Umgang mit Corona-Infektionen und Quarantäne benötigen. Und dafür haben wir nicht einmal ein Dankeschön gehört, weder von Bundesgesundheits-Minister Jens Spahn noch von seinem NRW-Kollegen Karl-Josef Laumann", wertet sie dies als mangelnde Wertschätzung.

Kinder haben Angst, nachts wegen Corona zu ersticken

Die Belastung für Kinder und deren Eltern im Lockdown, sie sei enorm. Psychologische Probleme hätten massiv zugenommen. "Ich habe hier bei den Vorsorge-Untersuchungen Sechsjährige, die nachts nicht mehr schlafen können aus Angst, sich mit Corona infiziert zu haben und deshalb zu ersticken", berichtet sie.

Bei einem Vierjährigen habe sich eine Quarantäne so tief eingegraben, "dass er jetzt nicht mehr aus dem Haus geht, weil er fürchtet zu sterben." Auch die Zahl der Hautausschläge und speziell der Neurodermitis-Fälle habe in den vergangenen Monaten enorm zugenommen.

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Gesprächs- und Beratungsbedarf bei Eltern sei hoch

"Diese Eltern und Kinder müssen wir doch auffangen. Wir versuchen den Kindern durch lange Gespräche die Angst zu nehmen und sprechen auch den Erwachsenen Mut zu", erzählt die Bueranerin. Besonders Alleinerziehende seien völlig überfordert mit Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice. "Viele wissen auch nicht, wie es wirtschaftlich für sie weitergehen soll, etwa wenn sie als 450-Euro-Kraft im Hotelgewerbe oder in der Gastronomie arbeiten. Wenn solche Mütter weinend vor uns sitzen, können wir sie doch nicht einfach wegschicken..."

Der Beitrag auch ihres fünfköpfigen Mitarbeiterinnen-Teams sei nicht hoch genug einzuschätzen. "Die Medizinischen Fachangestellten beruhigen, informieren, klären auf, sowohl am Telefon als auch am Empfang. Sie sind der erhöhten Infektionsgefahr genauso ausgesetzt wie wir Ärzte." Da der Lockdown vielen so an die Nieren gehe, würden einige Eltern auch aggressiv und laut, was besonders die Helferinnen zu spüren bekämen.

Dass diese Beschäftigten in den Praxen "vom Staat keinen finanziellen Bonus, überhaupt keine Anerkennung bekommen, ist eine Respektlosigkeit, die ihresgleichen sucht." Diese werde auch nicht durch die Tatsache ausgeglichen, dass Dr. Kirchmeyer ihren Fachangestellten privat einen Zuschuss zahle. "Die Ungerechtigkeit bleibt."

>> Kritik auch von Kassenärztlicher Vereinigung

Die verzögerte Corona-Impfung niedergelassener Ärzte wird auch von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) heftig kritisiert. Sie bedauere diese Vorgaben, teilte sie ihren Mitgliedern jetzt mit. "Es gibt keine Begründung, die seit Monaten hart arbeitenden Menschen in den Arztpraxen geringer zu priorisieren als die Kollegen an Krankenhäusern und die ambulante Pflege", heißt es in dem Schreiben.

Auch der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hält es für selbstverständlich, diejenigen zu immunisieren, "die andere jeden Tag behandeln, medizinisch versorgen und schützen", erklärte er im Deutschen Ärzteblatt. Mediziner "in den Praxen mit ihren Teams gehören unbedingt zum Kreis der vorrangig zu Impfenden."

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