Gelsenkirchen. Muezzin-Rufe wirken für viele befremdlich. Aber eine große Religionsgemeinschaft zu ignorieren, ist auch kein Weg. Zeit, sich zusammenzusetzen.

Als CDU-Oberbürgermeisterkandidat Malte Stuckmann im Kommunalwahlkampf angeregt hatte, einen zentralen Muezzin-Ruf in Gelsenkirchen während der Corona-Krise zu ermöglichen, ließ die Empörung von rechts nicht lange auf sich warten. Ein Vorschlag, der in einer kulturell so vielfältigen Stadt wie Gelsenkirchen alles andere als weltfremd ist. Übrigens auch nicht für viele andere Städte in NRW. Deshalb wurde der öffentlich wahrzunehmende Gebetsruf in Duisburg beispielsweise schon Mitte März ermöglicht.

Aber Gelsenkirchen ist eben nicht nur Schmelztiegel, sondern auch die AfD-Hochburg im Revier. Man will bloß nicht, dass diese Hochburg noch weiter ausgebaut wird – weshalb Debatten, wie die zum Muezzin-Ruf, hier am liebsten gar nicht geführt werden.

Abwägen zwischen Befremdlichkeit und Wunsch nach mehr Akzeptanz

Man könnte sie natürlich führen – vernünftig abwägend, unter Berücksichtigung christlicher Befremdlichkeit und muslimischer Wünsche nach mehr Akzeptanz. Denn beide Standpunkte sind ja verständlich. Klar dürfte es gerade für ältere Mitbürger, die noch nicht in einer Schulklasse mit 14 verschiedenen Nationen aufgewachsen sind, Irritationen auslösen, wenn „Allahu akbar“ plötzlich gut hörbar durch die Straße dringt.

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Aber klar ist auch, dass man das religiöse Selbstverständnis einer so großen Religionsgemeinschaft in Gelsenkirchen nicht einfach unter den Teppich kehren kann – vor allem nicht in Corona-Zeiten, in denen die gemeinschaftliche Religionsausübung allen erschwert wird. Deshalb wurde der Wunsch nach dem islamischen Gebetsruf vielerorts auch von christlichen Gemeinden unterstützt.

Die Angst vor Hassreaktionen ist bitter

Das Ausartungs- und Spaltungspotenzial bei so einer Debatte ist in Gelsenkirchen besonders hoch. Die Folge dieser gesellschaftlichen Spannung ist schon jetzt häufig: Statt offen und selbstbewusst aufzutreten und ihre Vorstellungen öffentlich zu machen, verstecken sich muslimische Gemeinden lieber, bleiben unter sich, wecken den Anschein von Zwielichtigkeit – und geben den Multikulti-Verächtern nur noch mehr Gründe zur Ablehnung.

Natürlich macht diese Ablehnung Angst, sogar so sehr, dass manche Gemeinden aus Angst vor Reaktionen aus der Nachbarschaft den Muezzin-Ruf am liebsten gar nicht erst erwähnen wollen. Der einzige Weg zu mehr Konsens in so schwierigen Fragen des religiösen Zusammenseins kann in Gelsenkirchen aber nur der einer maximalen Offenheit sein – von muslimischer Seite genauso wie von allen anderen Bürgern.

Lesen Sie hier das Contra von WAZ-Redakteur Sinan Sat: Muezzin-Rufe würden Gelsenkirchener Gesellschaft überfordern