Gelsenkirchen. Mit der Produktion „Puppet Masters“ nahmen vier Figurenkünstlerinnen Abschied vom Musiktheater im Revier. Bewegend, tiefgründig, surreal.

Ein Jahr lang zogen sie im Musiktheater im Revier die Fäden, ließen die Puppen tanzen und gaben Tieren und Monstern eine Stimme. Nun verabschiedeten sich die vier Puppenspielerinnen im Kleinen Haus mit ihren Diplom-Inszenierungen, mit denen sie ihr Studium der zeitgenössischen Puppenspielkunst an der Ernst-Busch-Hochschule Berlin abgeschlossen hatten.

Bianka Drozdik ließ die Puppen nicht dauerhaft in den Vordergrund - präsent waren sie aber doch immer.
Bianka Drozdik ließ die Puppen nicht dauerhaft in den Vordergrund - präsent waren sie aber doch immer. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Der Abend „Puppet Masters“ geriet vor allem zu einer beeindruckenden Demonstration intensiver Schauspielkunst. Denn ihren ganz großen Auftritt hatten Puppen und Figuren nicht, auch wenn sie fast permanent präsent waren. Ausdrucksstark geformte Köpfe verwandelten sich in allen drei Stücken in Protagonisten, die die Spielerinnen mit den Händen und Armen bewegten und zum Sprechen brachten. Die immense Vielfalt der Ästhetik von Puppen kam hier zwar nicht zum Tragen, dafür aber der starke und gelungene Umgang mit Theaterstoffen und Materialien.

Die vier Puppenspielerinnen Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik, Eileen von Hoyningen Huene und Anastasia Starodubova entschieden sich für tragische Themen und tief gründelnde Dramen. Die Produktionen setzten sich mit Sterben und Tod, mit fehlender Mutterliebe und Mord, Betrug und Moral auseinander.

Beim Stück „Amorph“ stockt der Atem

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Besonders beeindruckend und bewegend war das magische und tragische Mittelstück „Amorph“ mit den Spielern Brygmann, Emanuele Cefali und Laura Stefanidis. Vor einem weißen Stoffhaufen, Bettwäsche scheinbar, steht einsam ein Kinderwagen. Aus einem ebenfalls weißen Stoffhügel quillt ein zerfurchter Puppenkopf mit gequältem Blick hervor. Menschliche Klagelaute vermischen sich mit drohenden, treibenden Elektro-Rhythmen.

Eine amorphe, jammernde Masse, die sich langsam schleichend und kriechend dem Kinderwagen nähert, quillt dann förmlich in ihn hinein. Passiert da ein Kindsmord? Man weiß es nicht. Die klagend verzweifelte Mutter versinkt am Ende in einem Meer aus wogendem Stoff. Wie Wellen schlägt er über ihr zusammen. Da stockt bei so manchem der rund 70 Zuschauer im Kleinen Haus der Atem.

Die Inszenierungen „Disconnect“ und „Sauerstoff“

Bianka Drozdik (li.) und Eileen von Hoyningen Huene zeigen in „Disconnect“ die zarte surreale Liebesgeschichte zweier Menschen, die mit dem Sterben konfrontiert werden.
Bianka Drozdik (li.) und Eileen von Hoyningen Huene zeigen in „Disconnect“ die zarte surreale Liebesgeschichte zweier Menschen, die mit dem Sterben konfrontiert werden. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Um eine tödliche Diagnose kreist die Inszenierung „Disconnect“. Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene erzählen die Liebesgeschichte zweier Frauen vom ersten Kennenlernen über glückliche Zweisamkeit bis hin zum Sterbeprozess. Die weiteren Figuren übernehmen mit den Händen geführte Puppenköpfe, die mal dem Barkeeper, mal dem Bankangestellten oder dem Arzt ein Gesicht geben. Wie gehen wir mit dem Sterben, wie mit den Sterbenden um? Fragen, die das Stück erörtert.

Die Inszenierung „Sauerstoff“ nach Texten des russischen Autors Iwan Wyrypajew stellt zwei metallene Gebilde auf die Bühne, Lungenflügeln ähnlich, die tanzen, damit der Körper mit Sauerstoff versorgt werden kann. Josephine Buchwitz, Lilith Maxion und Anastasia Starodubova servieren eine surreale Melange aus Thesen und Erzählfetzen. Drei männliche Kopfpuppen ordnen das Geschehen nach den moralischen Kriterien der zehn Gebote streng ein.

„Puppentheater bedeutet für mich Grenzüberschreitung“

Der Abend dokumentiert eindringlich das, was zuvor Eileen von Hoyingen Huene über das Genre formuliert hatte: „Puppentheater bedeutet für mich Grenzüberschreitung. Die Grenze zwischen Schauspiel und Material, zwischen Darstellender Kunst und bildender Kunst, zwischen totem und lebendem Material oder auch Tönen und Sounds“.

Diese künstlerische Formsuche wird mit dem Puppenspiel auch in der neuen Spielzeit des Musiktheaters fortgesetzt. Für den Abschluss der ersten Saison gab es anerkennenden Beifall.

Figurenspiel bleibt

Erstmals richtete das Musiktheater im Revier in der letzten Spielzeit eine neue Sparte ein: das Puppen- und Figurentheater, übrigens als erstes deutsches Opernhaus. Auch in der gerade begonnenen Spielzeit 2020/21 werden wieder junge Figurenspieler das Repertoire bereichern.

Wenn am 19. September das Musical „The Black Rider“ im Großen Haus Premiere feiert, tanzen auch wieder die Puppen. Karten und Infos: 0209/4097200.