Gelsenkirchen. Die Feuerwehr Gelsenkirchen hat festgestellt, dass die Corona-Krise Bürger seltener 112 wählen lässt. Branddirektor Michael Axinger im Interview.

In der Reihe SommerGEspräche berichtet Gelsenkirchens Feuerwehrchef Michael Axinger unter anderem über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Notrufverhalten der Bürger.

Herr Axinger, wie ist die Feuerwehr Gelsenkirchen durch die Corona-Pandemie gekommen?

Michael Axinger: Wir haben die Corona-Krise bislang gut gemeistert. Um etwaigen Ausfällen vorzubeugen, haben wir alle Aus- und Fortbildungen gestoppt, um eine ausreichende Zahl an Kräften für den Einsatzdienst bereitstellen zu können. Letztlich haben wir das aber gar nicht gebraucht. Infektionsschutz gehört zum Alltag, wir sind auf alles vorbereitet. Außerhalb von Corona-Zeiten hat die hiesige Feuerwehr ja immer wieder mit ansteckenden Krankheiten oder gefährlichen Überträgern zu tun, beispielsweise mit der Krätze, der asiatischen Rattenmilbe, die Hautkrankheiten verursacht, Tuberkulose oder auch Meningokokken, die Hirnhautentzündungen hervorrufen. Schutzkleidung, Desinfektion, Hygiene – für all das sind wir umfassend ausgerüstet und haben ausreichende Vorräte. Selbst bei einer zweiten Welle gibt es keinen Grund zur Sorge.

Hat die Corona-Krise das Verhalten der Menschen beeinflusst?

Eindeutig ja. Die Gelsenkirchener Feuerwehr hat rund 50.000 Einsätze pro Jahr zu bewältigen, Tendenz steigend. Während des Lockdowns im Frühjahr ist die Anzahl der Einsätze spürbar zurückgegangen. Waren es früher durchschnittlich 140 Einsätze am Tag, so waren es im besagten Zeitraum nur 80 bis 100. Die Rettungsdiensteinsätze haben abgenommen, die Zahl der Krankentransporte ist gestiegen.

Verdacht: Hilfesuchende in Gelsenkirchen wählen auch aus Bequemlichkeit den Notruf

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Uns drängt sich der Verdacht auf, dass die Zahl der Notrufe aufgrund von Lappalien zurückgegangen ist – damit meine ich beispielsweise eine harmlose Schnittwunde im Finger oder ein umgeknickter Fuß. Das hat mit der Bequemlichkeit vieler Menschen zu tun. 112 gewählt und schon ist Hilfe da, vermeintlich ist die Versorgung in der Notfallambulanz eines Krankenhauses sogar noch besser als beim Hausarzt und die lästigen Wartezeiten fallen auch noch weg – ebenso die bei Anfragen über den ärztlichen Notdienst 116117. Die Kollegen in der Leitstelle haben oft das Gefühl, dass Anrufer die Situation dramatischer beschreiben als sie in Wirklichkeit ist – sicherheitshalber schickt die Feuerwehr den Rettungsdienst.

Der Leitende Branddirektor der Gelsenkirchener Feuerwehr, Michael Axinger, regt an, den Eigenanteil der Kosten beim Rettungsdienst zu erhöhen. Die Erfahrung der Feuerwehr in Gelsenkirchen: Viele wählen den Notruf, um Wartezeiten beim Hausarzt oder über den ärztlichen Notdienst zu vermeiden.
Der Leitende Branddirektor der Gelsenkirchener Feuerwehr, Michael Axinger, regt an, den Eigenanteil der Kosten beim Rettungsdienst zu erhöhen. Die Erfahrung der Feuerwehr in Gelsenkirchen: Viele wählen den Notruf, um Wartezeiten beim Hausarzt oder über den ärztlichen Notdienst zu vermeiden. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Welche Folgen hat das?

Durch Bagatellfälle werden Kräfte gebunden. Die Feuerwehr Gelsenkirchen hat 16 Rettungswagen im Tagesdienst. Im schlimmsten Fall, etwa bei schweren Unfällen, kommen die Retter erst mit Verspätung zum Unfallort. Corona hat aber auch noch etwas anderes bewirkt. Menschen, die tatsächlich auf Hilfe angewiesen sind, zögern mit einem Notruf. Oft aus Angst vor Kontakt mit Rettungskräften oder einer Infektion im Krankenhaus.

Auch interessant

Wie ließe es sich verhindern, bei Bagatellen den Notruf zu wählen?

Ein Einsatz des Rettungsdienstes kostet um die 500 Euro. Das sind erhebliche Kosten, die die Allgemeinheit tragen muss. Der Eigenanteil beträgt zehn Euro. Wenn die Krankenkassen eine höhere Zuzahlung veranschlagten, würden sich viele überlegen, ob sie wegen einer Lappalie so viel Aufhebens machen wollen. Wir wünschen uns, dass Bund, Länder und Kassen da aktiv werden, augenscheinlich ist das politisch aber nicht gewollt.

Ehrenzeichen für den Feuerwehrchef

Michael Axinger ist jüngst mit dem Brand- und Katastrophenschutz-Verdienst-Ehrenzeichen in Silber ausgezeichnet worden. Unter anderem hat der Feuerwehrchef die Ehrung für die Mitarbeit an der Weiterentwicklung des regionalen und bundesweiten Brand- und Katastrophenschutzes bekommen.

Michael Axinger, 1964 in Dorsten geboren, ist Diplom-Chemiker. Sein Brandreferendariat begann er bei der Berufsfeuerwehr GE. Seine Karriere führte ihn bis ins hessische Innenministerium. Von 2001 bis 2013 leitete Axinger die Einsatzabteilung der hiesigen Wehr, im Mai 2013 wurde er Feuerwehrchef.

Gelsenkirchener Feuerwehrmann steckt sich auf Ischgl-Urlaub mit Corona an

Die Feuerwehr Gelsenkirchen hat ihren ersten Corona-Fall?

Richtig. Ein Kollege hat sich in seinem Winter-Urlaub in Ischgl infiziert, er hatte zuvor eine Erkältung. Er lag im Koma, hat sich aber wieder gut erholt. Er ist aus der Reha zurückgekehrt und wird aller Voraussicht nach seinen Dienst in diesem Monat wieder aufnehmen. Insgesamt hatten wir bislang drei Verdachtsfälle, die sich letztlich als unbegründet erwiesen haben.

Eine Hitzewelle lässt das Revier schwitzen, wie sieht es mit Unfällen an Seen, in Bädern oder am Kanal in Gelsenkirchen aus?

Im Sommer haben wir immer wieder mal ein paar Badeunfälle. Sie spielen aktuell keine Rolle. Oft beherzigen Menschen Badeverbote nicht. Oder ignorieren einfache Bade-Regeln: Kein Alkohol, nicht überhitzt oder mit vollem oder leerem Magen schwimmen, Nichtschwimmer sollten nur bis zum Bauch ins Wasser gehen, keine Sprünge von Brücken und Ähnlichem. Dazu darf man niemals seine Kraft überschätzen und dort schwimmen gehen, wo Boote und Schiffe fahren. Ich selbst bin vor ein paar Jahren am Amphitheater in den Kanal gehechtet und habe einem Mann geholfen, der sich nicht mehr über Wasser halten konnte. Trotz massiver Rückenprobleme ist er von der Buga-Brücke gesprungen. Ein tödliches Risiko, man weiß nie, was im Wasser liegt: Holz oder Eisenteile, an denen Verletzungen drohen, Wasserpflanzen, in denen man sich verheddern kann.

Auch interessant

Einsatzaufkommen in Gelsenkirchen steigt jährlich um zwei bis fünf Prozent

Hitze bedeutet auch Brandgefahr, wie sieht die aktuelle Lage aus?

Die Brandgefahr ist hoch, auch wenn es zwischendurch geregnet hat. Böden und Grün sind stark ausgetrocknet. Die Feuerwehr ist bislang zu einigen kleineren Flächenbränden ausgerückt, die schnell in den Griff zu bekommen waren. Zuletzt brannte in Hassel ein Stoppelfeld, das war ein größeres Feuer, oder am Montag die brennende Strohmiete in Resse. Aber: Es fängt nie von allein an zu brennen. Es geht immer um Fahrlässigkeit oder Brandstiftung. Die Geschichte von der Glasscherbe, die ein Feuer entfacht, ist ein Märchen. Weggeworfene Zigaretten und Wildgriller, die Kohlereste unsachgemäß entsorgen, sind ein Problem. Oder Autofahrer, die bis zum Picknickplatz vorfahren und deren heißer Katalysator dann das Gras entzündet.

Gelsenkirchen- Strohballen geraten in Brand

weitere Videos

    Die Gelsenkirchener Feuerwehr hat im Durchschnitt 140 Einsätze pro Tag zu bewältigen, während des Lockdowns im Frühjahr sank die Zahl der Notrufe auf 80 bis 100 täglich. Hilfesuchende hatten laut Wehr Sorge, sich bei den Rettern oder im Krankenhaus anzustecken.
    Die Gelsenkirchener Feuerwehr hat im Durchschnitt 140 Einsätze pro Tag zu bewältigen, während des Lockdowns im Frühjahr sank die Zahl der Notrufe auf 80 bis 100 täglich. Hilfesuchende hatten laut Wehr Sorge, sich bei den Rettern oder im Krankenhaus anzustecken. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

    Blicken wir in die Zukunft. Wie stellt sich die Feuerwehr auf?

    Im April 2018 wurde der Rettungsbedarfsplan aus 2017 für Gelsenkirchen umgesetzt. Seine Laufzeit reicht bis zum 31. März 2022. Unser Einsatzaufkommen wächst allerdings jährlich um zwei bis fünf Prozent. Daher arbeiten wir bereits an einem neuen Plan, sonst überholt uns die Realität. Wir wollen künftig auf ein Zwei-Jahres-Intervall kommen. Und es zeichnet sich ab, dass wir mehr Rettungswagen im Einsatz haben müssen. Derzeit sind acht solcher Fahrzeuge von der Gelsenkirchener Feuerwehr auf den Straßen unterwegs und acht von Hilfsorganisationen, mit denen wir kooperieren. Das wird am Geld wahrscheinlich nicht scheitern – Krankentransporte und Rettungsdienst verursachen nur zwei Prozent der Kosten im Gesundheitssystem, Krankenhäuser und Praxen schlagen deutlich mehr zu Buche.

    Auch interessant

    Spezieller Hygienewagen fährt jetzt in Gelsenkirchen mit

    Welche Lehren hat die Feuerwehr aus der Corona-Krise gezogen?

    Michael Axinger: Wir haben unsere Schutzmaßnahmen nochmals verschärft. Jeder Türgriff, jedes Treppengeländer, alles wird desinfiziert. Die Abteilungen Leitstelle, Brandschutz und Rettungsdienst wurden strikt voneinander getrennt. Zusätzlich zu unseren Hygieneschleusen, durch die die Kräfte nach den Einsätzen müssen, sind in der Fahrzeughalle Umkleidebereiche eingerichtet worden. Rettungsdienstkleidung aus Einsätzen darf die Wache(n) nicht infizieren.

    Brandmeister Christian Kottkamp belädt an der Hauptwache an der Seestraße in Gelsenkirchen-Buer den neuen Gerätewagen Hygiene.
    Brandmeister Christian Kottkamp belädt an der Hauptwache an der Seestraße in Gelsenkirchen-Buer den neuen Gerätewagen Hygiene. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

    Es gibt jetzt auch einen Gerätewagen Hygiene – was hat es damit auf sich?

    Es handelt sich dabei um einen von uns umgebauten Schlauchwagen. Sinn und Zweck dieses Wagens ist es, dass die Rettungskräfte ihre vom Einsatz kontaminierte Kleidung loswerden, noch bevor sie wieder einrücken. Bei Bränden etwa entstehen polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, sie sind giftig und krebserregend.

    Wie muss man sich das Prozedere vorstellen?

    Das Fahrzeug verfügt über verschließbare Behälter, in die die benutzte Einsatzkleidung kommt. Auf dem Wagen befindet sich frische Kleidung, dicht verpackt in Hygienerucksäcken. Schnell aufgebaute Wurfzelte ermöglichen das Umziehen vor Ort. Ein Abspritzen mit Wasser ist ebenso möglich, um den gröbsten Dreck, der einem Feuerwehrmann an der Kleidung nach dem Einsatz anhaftet, loszuwerden. Oder mit Handtüchern.
    Praktisch errichten wir mit dem Hygienewagen einen mobilen Schwarz- und Weißbereich – wie früher im Bergbau. Die verschmutzte Kleidung landet schließlich an der Wache in einem Außen-Container, wo sie mehrere Tage ausgasen kann. Danach wird sie gereinigt.