Gelsenkirchen-Buer. Das Halten von Brieftauben ist in Gelsenkirchen ein wenig aus der Mode gekommen. Doch es gibt auch junge Menschen, die das Hobby betreiben.

Auf dem Hof von Theo Stemmann an der Obererle in Gelsenkirchen gibt es zwei Sorten von Pferden. Die eine hat Fell, vier Beine und ein langes Gesicht. Bei der anderen Sorte handelt es sich um die Tiere, die hier im Ruhrgebiet auch als „Rennpferde des kleinen Mannes“ bezeichnet werden: Brieftauben.

Es ist noch gar nicht so furchtbar lange her, da wäre ein Taubenschlag ein ganz normaler Anblick im Ruhrgebiet gewesen. Der „Taubenvatta“ ist eine dieser Klischeegestalten im Revier: der Bergmann, der auf dem Dachboden seines Zechenhäuschens ein paar Tauben hält, sie hegt und pflegt und am Wochenende zu Preisflügen antreten lässt.

Welcher junge Mensch in Gelsenkirchen interessiert sich heute noch für Brieftauben?

„Rennpferd“ mit Flügeln: Theo Stemmann zeigt den Flügel einer seiner Tauben.
„Rennpferd“ mit Flügeln: Theo Stemmann zeigt den Flügel einer seiner Tauben. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Aber wie es mit so vielen Ruhrgebietsklischees ist: Das war einmal so. In der „Brieftauben Reisevereinigung Gelsenkirchen Buer“ etwa sind heute 36 Taubenschläge organisiert – zu den Hochzeiten des Taubensports in den 1950er- und 1960er-Jahren etwa waren es 500. Theo Stemmann, Vorsitzender der RV Buer, weiß, wie schwierig es ist, Nachwuchs für seinen Sport zu finden. Welcher junge Mensch interessiert sich heute noch für Brieftauben?

Die Antwort auf diese Frage heißt Marie Neuhaus, sie ist 19 Jahre alt und vom Taubensport begeistert. Sie kann sich aber noch gut daran erinnern, dass das nicht immer der Fall war. „Ich habe schon früher die Tauben auf Theos Hof gesehen und weiß noch, dass ich das früher blöd fand“, sagt sie. Andererseits sei sie familiär geprägt: „Schon mein Urgroßvater hat Tauben gehalten“, erzählt sie, und auch Mutter Ilga sei Züchterin.

Warum die Tauben zu ihrem Schlag zurückfinden, ist noch nicht geklärt

Irgendwann habe es dann „Klick“ gemacht. „Wenn man vor dem Taubenschlag sitzt, auf die Tiere wartet – und dann kommen sie auf einmal angeschossen: Das ist schon toll“, beschreibt sie ihre Faszination für das Hobby. Die sie Menschen ihres Alters aber bislang noch nicht so richtig vermitteln konnte. „Die meisten fragen mich, ob ich ihnen einmal eine Brieftaube schicken kann, wenn sie hören, dass ich mich mit Tauben beschäftige“, sagt sie und grinst.

So funktioniert das natürlich nicht: Man kann den Tauben nicht sagen, wohin sie fliegen sollen. Die Tiere

Kleine Leistungssportler: Brieftauben im Schlag der Schlaggemeinschaft Stemmann. Zum Teil wird für gute Tauben richtig viel Geld gezahlt.
Kleine Leistungssportler: Brieftauben im Schlag der Schlaggemeinschaft Stemmann. Zum Teil wird für gute Tauben richtig viel Geld gezahlt. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

sind lediglich in der Lage, von einem anderen Ort immer wieder zu ihrem Taubenschlag zurück zu finden. Wobei das Wort „lediglich“ eine gewaltige Untertreibung ist: Dass eine Taube aus Buer, die zum Beispiel in München aufgelassen wird, problemlos den Weg zurück ins Ruhrgebiet findet, ist faszinierend – selbst Menschen mit Navi gelingt das nicht immer fehlerfrei. Wissenschaftlich ist noch nicht abschließend geklärt, wie das den Tieren gelingt.

1,25 Millionen Euro für eine einzige Brieftaube

Marie Neuhaus betreibt gemeinsam mit ihrer Mutter Ilga und Theo Stemmann einen Taubenschlag – das Modell, dass man eine „Schlaggemeinschaft“ gründet, ist inzwischen ziemlich beliebt in der RV Buer. Denn das Hobby ist aufwendig, kostet Zeit und Geld. „Die Vögel wollen 365 Tage im Jahr betreut werden“, sagt Theo Stemmann. Auch ein Grund, warum die Taubenzüchter ein Problem mit dem Nachwuchs haben. „Die Freizeitgestaltung ist heute eine völlig andere“, sagt Stemmann, von den Wohnverhältnissen einmal ganz abgesehen. Ein Taubenschlag auf dem Dachboden eines Reihenhauses in einer Neubausiedlung – kaum vorstellbar.

Doch völlig aus der Mode gekommen ist der Taubensport nicht. In China boomt der Markt mit den gefiederten Rennern, für eine gute Zuchttaube werden zum Teil astronomische Summen gezahlt. Zuletzt kaufte ein chinesischer Geschäftsmann ein Tier für den sagenhaften Preis von 1,25 Millionen Euro. Davon ist man im Ruhrgebiet weit entfernt – aber vierstellige Preise für eine gute Taube sind eher die Regel als die Ausnahme. Da ist der Vergleich zum Pferderennsport legitim.

Wegen Corona ruhte der Rennbetrieb

Kleiner Goldbarren zu gewinnen

Am 13. September veranstaltet die RV Buer einen Gold-Cup-Flug unter dem Titel „Modern Art“. Jeder Züchter beziehungsweise jede Schlaggemeinschaft kann maximal sechs Jungtauben einsetzen. Als Preis winkt ein kleiner Goldbarren.

Weitere Infos zum Rennen gibt es per E-Mail an oder per Telefon: 0209 33202.

Allerdings geht es bei den Rennen in Deutschland nur ganz selten um Preisgeld, geflogen wird um Pokale und die Ehre. Wegen der Corona-Pandemie ruhte der Rennbetrieb, erst allmählich gehen die Flüge jetzt wieder los. Allzu lange dauert die Saison sowieso nicht, lediglich von April bis September fliegen die Tiere, dann ist Winterpause. Dann bleiben die Tauben im Schlag – und können sich auf eine hoffentlich coronafreie Saison 2021 vorbereiten.