Gelsenkirchen-Ückendorf. Stadtteilbüro, Bauausstellung und ein Café werden im Haus Reichstein unter einem Dach vereint. So weit ist das Gelsenkirchener Vorzeigeprojekt.

Massive Stahlträger stützen die Obergeschosse, stählerne Streben sind zur dauerhaften Bausicherung an verschraubten Platten verankert und bändigen Fliehkräfte, frisch gegossene, mächtige Betonpfeiler sorgen zusätzlich für Halt. Sie stehen kerzengerade und machen im Vergleich erst deutlich, wie schräg die Wände sich rundum gelegt haben mit den Jahrzehnten. Die Bergbaufolgen und Bergsenkungen wurden im „Haus Reichstein“ an der Bochumer Straße 114 zu steinernen Monumenten für die Vergangenheit. Allerdings arg hinfälligen. Im NRW-Modellhaus an der Bochumer Straße wird nun beispielhaft demonstriert, wie mit solch baulichen Altlasten umgegangen werden kann, wie ein fast schon abrissreifes Denkmal für die Zukunft gerettet werden kann.

SEG will für Gelsenkirchen Trendwende in Ückendorf schaffen

Die Fassade von Haus Reichstein ist noch verhängt und durch ein Gerüst verstellt, der Gehweg vor der Hausnummer 114 wurde auf die Bochumer Straße verlegt. Zwei Häuser weiter wurde jüngst eine frisch sanierte Fassade „enthüllt“
Die Fassade von Haus Reichstein ist noch verhängt und durch ein Gerüst verstellt, der Gehweg vor der Hausnummer 114 wurde auf die Bochumer Straße verlegt. Zwei Häuser weiter wurde jüngst eine frisch sanierte Fassade „enthüllt“ © FUNKE Foto Services | Joachim Kleine-Büning

Der Verfall ist nachhaltig gestoppt, das Dach ist dicht, die Heizungsinstallation fertig, bald kommen die neuen Fenster. „Das Schlimmste ist geschafft“, sagt Helga Sander, die Geschäftsführerin der SEG, der Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen. Sie ist vor vier Jahren angetreten, die Trendwende im Viertel zu schaffen, Schrottimmobilien für die Stadt aufzukaufen, die Sanierung anzuschieben, neues Leben entlang der Bochumer Straße zu etablieren, neue Treffpunkte zu schaffen – auch im Haus Reichstein, dessen hochherrschaftliche Fassade sich noch hinter einem Baugerüst verbirgt.

Projekt hat seit Ende 2018 überregional Vorbildcharakter bekommen

Nikoleta Manojlovic und Patrick Raute stehen im Erdgeschoss des Hauses, das als Sanierungsfall – mit eigener Homepage und Videotagebuch – seit Ende 2018 überregional Vorbildcharakter bekommen hat. Der alte Windfang führte einst in die Kneipe. Noch sind Fenster verbrettert, Balkenwerk und Backstein, bröckelnder Putz und neue Ziegel dominieren die Optik. Die frühere Kegelbahn ist abgerissen worden, eine Bautür führt in den Hinterhofgarten hinaus. Einiges an Fantasie ist derzeit noch erforderlich, sich hier eine gastronomische Zukunft vorzustellen. Die streben die beiden an: Manojlovic, 24, gelernte Hotelfachfrau mit mehrjähriger Gastronomieerfahrung, und Raute 31, Biotechnologe, wollen hier im Frühjahr 2021 das „Café im Haus Reichstein“ eröffnen.

Warme Farbtöne, viel Holz und Lichtobjekte aus alten Hölzern

Noch ist es ein Arbeitstitel. Dafür sind die Vorstellungen im Rohbau schon recht konkret: Warme Farbtöne, viel Holz und Lichtobjekte aus alten Hölzern sollen die Atmosphäre bestimmen, wo Theke und Kaltküche, Sanitäranlagen und Veranstaltungsraum Platz finden werden, ist ebenfalls schon klar, auch was auf den Teller kommt: Lebensmittel aus regionaler Produktion, gerne auch aus dem eigenen Hinterhausgarten. Manojlovic und Raute wollen dort Gemüse ziehen, auch in einem kleinen Gewächshaus. Ambitioniert sind die Öffnungszeiten, die sie anstreben – täglich 9 bis 19 Uhr.

Stadtteilbüro Ückendorf zieht an die neue Adresse

Von alt bis neu: Verschiedene Sanierungsstadien- und bauliche Lösungen werden im Haus dokumentiert und erklärt. Direkt neben den Ausstellungsräumen werden Annika Ziemer vom Stadtteilbüro und Quartiersarchitekt Markus Gebhardt beraten.
Von alt bis neu: Verschiedene Sanierungsstadien- und bauliche Lösungen werden im Haus dokumentiert und erklärt. Direkt neben den Ausstellungsräumen werden Annika Ziemer vom Stadtteilbüro und Quartiersarchitekt Markus Gebhardt beraten. © FUNKE Foto Services | Joachim Kleine-Büning

„Wir wohnen beide um die Ecke“, sagt der 31-Jährige. Er glaubt wie seine Freundin fest an den Entwicklungsschub, den Ückendorf gerade durch die vielen Veränderungen an der Bochumer Straße bekommt. Nicht unwichtig für die eigene berufliche Perspektive. Raute will sich „als Quereinsteiger“ vor allem um die administrativen Seiten des Geschäfts kümmern und seinen bisherigen Hauptjob in Teilzeit fortführen. Nikoleta Manojlovic will sich um das Tagesgeschäft kümmern.

Modellprojekt für zehn Jahre

Das Haus Reichstein behält über einen Förderzeitraum von zehn Jahren seinen Modellcharakter. Hier wird dokumentiert und vorgeführt, wie Altbauten gerettet werden, wie bauliche Probleme gelöst, Schwamm oder Feuchtigkeitsschäden beseitigt und Böden, Wände und Decken neu aufgebaut werden können.

In die Sanierung des Hauses fließen rund 1,7 Millionen Euro, rund 1,3 Millionen Euro schießt NRW an Landesmitteln zu, auch die Betriebsphase wird gefördert. Dafür bleibt das Haus öffentlich zugänglich.

Gastronomie, Stadtteilbüro und Ausstellung teilen sich in den kommenden Jahren den Platz. Im Dachgeschoss könnte es Mieträume geben, zum Beispiel für gastierende Künstler oder Stipendiaten.

Im Erdgeschoss werden sie 2021 Nachbarn haben, die auch für die weitere Belebung des Hauses sorgen: Das Stadtteilbüro Ückendorf, bislang auf der gegenüberliegenden Straßenseite neben der Kirche Heilig Kreuz beheimatet, wird mit acht Personen einziehen. In einem weiteren früheren Gastraum wird das Stadtteilbüro dann seinen Empfang mit eigenem Zugang haben, die Beratungs-Büros werden in den beiden Obergeschossen untergebracht. Quartiersarchitekt Markus Gebhardt (55), beratend tätig in Rotthausen und Ückendorf, wird hier und vor Ort beraten. Oder auch Annika Ziemer (28). Für Bau- und Planungsprojekte sowie Sanierungsrecht ist sie im Stadtteilbüro Ansprechpartnerin. Für beide gilt: Die Anschauungsräume mit Musterlösungen für Sanierungsmaßnahmen liegen im Haus sozusagen nebenan.

Anschauungsräume mit Musterlösungen für Sanierungsmaßnahmen

All das soll Frequenz bringen. „Ausstellungsräume und Café sind eine super Ergänzung“, glaubt Matthias Krentzek, der sich fürs Projekthaus um Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit kümmert. In der Region l hat das Haus, hat das Kreativquartier Ückendorf längst Strahlkraft entwickelt. Helga Sander: „Die Bochumer Straße ist bekannt dafür, dass hier Stadterneuerung stattfindet.“

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