Gelsenkirchen-Horst. Stefan Plaggenborg und der Gelsenkirchener Daniel Schmidt erinnern an die Verantwortung für Gewaltexzesse. Er gründete die gefürchtete Tscheka.

Lenin ist tot, es lebe Lenin? Während die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) der gerichtlich abgesegneten Aufstellung einer Statue des Revolutionärs am Samstag, 14. März, vor ihrer Bundeszentrale in Horst entgegensieht, verurteilen Stadt, SPD, CDU und Grüne das Vorhaben scharf. Und was halten die, die es von Berufs wegen wissen müssen, von der Initiative? Die Redaktion sprach mit zwei Historikern über die Frage, wie sie Lenin sehen und ob eine 2,15 Meter große öffentliche Würdigung aus Gusseisen vertretbar ist.

Die Antwort darauf lautet sowohl für Daniel Schmidt, Leiter des Gelsenkirchener Instituts für Stadtgeschichte, als auch für Prof. Stefan Plaggenborg, Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität Bochum, klar: Nein! Denn Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), der unter dem Pseudonym Lenin zunächst politische Schriften veröffentlichte, sei nicht nur ein russischer Theoretiker und in den Augen seiner Anhänger „glorreicher Revolutionär“ gewesen als Chef der Bolschewiki (1912-1924), aus der die Kommunistische Partei Russlands hervorging. „Er war ein Schreibtischtäter. An seiner Feder klebte Blut“, so Plaggenborg.

Am Samstag, 14. März 2020, will die MLPD diese derzeit in einer Werkstatt untergebrachte Lenin-Statue, in den 1930er-Jahren im stalinistischen Russland gegossen, auf ihrem Grundstück An der Rennbahn/Schmalhorststraße in Gelsenkirchen-Horst aufstellen lassen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat den von der Stadt verhängten Baustopp aufgehoben, weil die Figur den Denkmalschutz des Gebäudes nicht beeinträchtige.
Am Samstag, 14. März 2020, will die MLPD diese derzeit in einer Werkstatt untergebrachte Lenin-Statue, in den 1930er-Jahren im stalinistischen Russland gegossen, auf ihrem Grundstück An der Rennbahn/Schmalhorststraße in Gelsenkirchen-Horst aufstellen lassen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat den von der Stadt verhängten Baustopp aufgehoben, weil die Figur den Denkmalschutz des Gebäudes nicht beeinträchtige. © dpa | Marcel Kusch

Tausende unter Lenin getötet

Zwar habe Lenin nicht selbst getötet, aber als Regierungschef der Russischen Sowjetrepublik und Sowjetunion (1917-1924) bis zu seinem Tode 1924 zahllose Todesurteile unterschrieben. Er gründete 1917 die Geheimpolizei „Tscheka“, die später in KGB umbenannt wurde, und habe damit den Roten Terror gegen Andersdenkende institutionalisiert. „Ihm war jedes Mittel recht, um dem Bolschewismus zum Sieg zu verhelfen und er schritt dabei auch über Leichen hinweg“, betont der Historiker, der sich unter anderem auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion spezialisiert hat.

Persönliche Verantwortlichkeit

Lenin als „Begründer des ersten sozialistischen Landes der Welt“ ein Denkmal zu setzen, weil er sich „für die Befreiung der Arbeiter und Bauern einsetzte, den 1. Weltkrieg beendete“ und Frauen „ein freies selbstbestimmtes Leben ermöglichte“, so die MLPD – das wertet er als „eigenwillige Geschichtsdeutung und -verdrehung“. Das Ende des Weltkriegs sei nur beabsichtigt, aber de facto nicht erfolgreich gewesen, „weil die Deutschen sich nicht an den separaten Friedensvertrag mit Russland gehalten haben.“

Die Russische Revolution sei von Arbeitern im Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung getragen gewesen. „Aber Lenins Bolschewisten haben die Arbeiter kurz nach der Oktoberrevolution politisch und sozial geknebelt, deren Emanzipation unterdrückt, die intellektuelle und Künstler-Avantgarde verfolgt und die orthodoxe Kirche brutal bekämpft. Priester, Mönche und Nonnen wurden ermordet.“

Nach Attentat auf Lenin wurden Geiseln genommen und erschossen

Prof. Dr. Stefan Plaggenborg, Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität Bochum, lehnt das Lenin-Denkmal in Gelsenkirchen-Horst als „bedenklich“ ab.     
Prof. Dr. Stefan Plaggenborg, Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität Bochum, lehnt das Lenin-Denkmal in Gelsenkirchen-Horst als „bedenklich“ ab.      © privat

So haben die Bolschewiki etwa nach dem Attentat auf ihn im August 1918 in der Opposition Geiseln nehmen und erschießen lassen. „Mit seinem Wissen oder auf seine Anordnung hin wurden Tausende Menschen getötet“, fasst Plaggenborg zusammen, was Lenin selbst zu jener Zeit als „gnadenlosen Massenterror gegen Kulaken (reiche Bauern, d. Red.), Popen und Weißgardisten (Gegner der Bolschewiki, d. Red.)“ offen ankündigte.

Auch ISG-Leiter Schmidt ist überzeugt, dass Lenin „nicht nur als genialischer Vordenker betrachtet“ werden dürfe. „Er war aber persönlich-politisch verantwortlich für Gewaltexzesse.“

Statue „wäre falsches Zeichen“

Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Gelsenkirchener Instituts für Stadtgeschichte, hält die Aufstellung einer Lenin-Statue im Stadtteil Horst für verfehlt.
Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Gelsenkirchener Instituts für Stadtgeschichte, hält die Aufstellung einer Lenin-Statue im Stadtteil Horst für verfehlt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Bei der Bewertung des MLPD-Vorhabens solle man sich „gar nicht so sehr um den kümmern, der gezeigt ist, sondern um das, was gemeint ist“, sprich: um den historischen Kontext, in dem die Statue entstanden ist. Nach Selbstaussage der MLPD stammt die Figur aus den 1930er-Jahren und wurde in der Sowjetunion gegossen. „Damit handelt es sich um ein herrschaftslegitimierendes stalinistisches Denkmal aus einer Zeit, in der Stalin sich als legitimer Nachfolger Lenins darstellen wollte“, stellt Schmidt heraus. Deshalb müssten Zwangskollektivierungen und „Säuberungen“ mit Millionen von Toten beim Anblick der Statue mitgedacht werden.

Eine Statue für Lenin ist angesichts der vielen Opfer stalinistischen Terrors ein falsches erinnerungspolitisches Zeichen“, betont Schmidt. Für „gruselig, gespenstisch und anachronistisch“ hält Plaggenborg die Würdigung Lenins auch vor dem Hintergrund, dass Denkmäler mit dessen Konterfei nach 1991 fast überall in Russland und den Nachfolgestaaten abmontiert wurden. Der Terror, der mit den Anfängen der Sowjetunion assoziiert wird, sei nicht nur mit Stalins Namen in Verbindung zu bringen. „Die Anfänge gehen eindeutig auf Lenins Konto.“