Gelsenkirchen-Altstadt. Seit 1976 spielen die Handballer des PSV Gelsenkirchen an Heiligabend gegen Inhaftierte der Sozialtherapeutischen Anstalt („Sotha“).

Der Ehrgeiz hat Sebastian R. (35) und seine Mitstreiter gepackt. Die acht Inhaftierten der Sozialtherapeutischen Anstalt („Sotha“) an der Munckelstraße in Gelsenkirchen bilden am heutigen Heiligabend wieder ein Handballteam, das innerhalb der Knastmauern auf Torejagd geht. Es steht an: das 43. Feiertagsduell gegen eine Auswahl des PSV Gelsenkirchen.

Dieses sportliche Kräftemessen am frühen Mittag eines jeden 24. Dezember, das stets mit einem gemütlichen Beisammensein zwischen den Strafgefangenen und ihren Gästen endet, hat in all den Jahrzehnten immer der Polizeisportverein für sich entschieden. „Diesmal wollen wir gewinnen“, kündigt Sebastian R. mit der nötigen Portion Trotz und Überzeugung in der Stimme an.

Knapp 100 Vollzugsbedienstete kümmern sich 57 Inhaftierte

Beatrix Mühlhans ist die stellvertretende Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt an der Munckelstraße in der Gelsenkirchener Altstadt.
Beatrix Mühlhans ist die stellvertretende Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt an der Munckelstraße in der Gelsenkirchener Altstadt. © Michael Korte

In der „Sotha“ mit ihren knapp 100 Vollzugsbediensteten sind laut Beatrix Mühlhans, der stellvertretenden Anstaltsleiterin, derzeit 57 Inhaftierte und Sicherungsverwahrte untergebracht. Diese leiden unter Persönlichkeitsdefiziten. Genau deshalb sitzen sie ihre Strafe in der Einrichtung in der Gelsenkirchener Altstadt ab, die sich auf die Betreuung dieser Menschen spezialisiert hat. „Wir haben Borderliner unter unseren Inhaftierten, aber auch Menschen, die ohne jede Regel- und Wertevermittlung aufgewachsen sind“, sagt Mühlhans. Sie alle durchlaufen während ihres Aufenthalts in der „Sotha“ zahlreiche therapeutische Angebote. Ein Baustein in diesem Konzept ist der Sport. Die Teilnahme an diesen Kursen ist für alle verpflichtend.

Vom Sportmuffel zum Enthusiasten

„Als ich vor vier Jahren hierher gekommen bin, habe ich mich überhaupt nicht für Sport interessiert. Inzwischen trainiere ich an sechs Tagen in der Woche“, erzählt Sebastian R., der 2014 wegen einer Gewaltstraftat zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Mehr Details zu seiner Tat will er in der Öffentlichkeit nicht erzählen. Seit 2016 ist er nun in der „Sotha“ inhaftiert, nachdem er die ersten zwei Jahre in insgesamt vier anderen Justizvollzugsanstalten verbracht hatte. „Durch den Zugang zum Sport, der mir hier aufgezeigt wurde, bin ich nicht nur viel fitter geworden. Ich bin auch ausgeglichener, kontrollierter und disziplinierter als zuvor“, ordnet sich der Gefangene selbst ein.

Der 35-Jährige litt an einer so genannten Impulsstörung. Was verbirgt sich dahinter? „Wenn damals in mir Aggressionen hochgekocht sind, mussten die immer sofort aus mir heraus“, erklärt Sebastian. Er hat inzwischen zahlreiche Therapien durchlaufen. Dort wurden ihm neue Verhaltensmuster aufgezeigt. „Aber sie haben auch meinem Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein gut getan“, sagt er. „Ich kann heute viel besser Fremden begegnen. Ein Gespräch so wie hier und jetzt mit einem für mich völlig Unbekannten wie ihnen zu führen, das wäre für mich früher gar nicht möglich gewesen.“

Das Handballspiel steigt stets unter freiem Himmel – bei Wind und Wetter

Auf diesem Freiluftfeld in der Sozialtherapeutischen Anstalt in Gelsenkirchen wird an Heiligabend das Handballspiel stattfinden.
Auf diesem Freiluftfeld in der Sozialtherapeutischen Anstalt in Gelsenkirchen wird an Heiligabend das Handballspiel stattfinden. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Und wie sieht besagtes Sportangebot in der „Sotha“ nun genau aus? „Es gibt es einen kleinen Raum für Kraftsporttraining in unserem Keller. Und es gibt unseren Freiluft-Sportplatz, der über einen Tartanboden verfügt“, sagt Beatrix Mühlhans. „Eine Sporthalle haben wir hier nicht.“ Genau deshalb findet das Heiligabend-Handballspiel mangels Alternativen auch stets unter freiem Himmel statt. Bei Wind und Wetter. „Unsere Spieler sind meistens jünger als die PSV-Spieler und daher etwas schneller“, sagt Sebastian. Die Gäste seien dafür technisch und spieltaktisch überlegen. „Im Vorjahr haben wir nur mit vier Toren Unterschied verloren. Wir hoffen, dass es diesmal zum allerersten Sieg reicht.“

Nach dem Spiel sitzen alle Sportler noch beisammen, tauschen kleine Geschenke aus und quatschen über den Knastalltag. Während die PSV-Handballer sich dann auf den Weg nach Hause machen, um mit ihren Liebsten den Heiligabend zu verbringen, bleiben die Inhaftierten in der „Sotha“ zurück. „Wir treffen uns mit fünf Insassen und kochen zusammen“, beschreibt Sebastian seine Heiligabend-Pläne für die Zeit nach dem Handball-Spiel.

Standortverlagerung nach Bochum

Ob diese Tradition aufrechterhalten wird, steht indes noch nicht fest. Die „Sotha“ wird im kommenden Jahr nach Bochum verlegt. Geplant ist ein Umzugstermin im Sommer oder spätestens im Herbst. Der Neubau entsteht derzeit in unmittelbarer Nähe zur dortigen JVA und zum ehemaligen Ruhrstadion des VfL. „Die PSV-Handballer müssen noch entscheiden, ob sie zum Spielen auch in die Nachbarstadt fahren würden“, so Beatrix Mühlhans. „Wir hoffen auf jeden Fall, dass es 2020 mit dem Weihnachts-Handballspiel weitergeht.“