Heiligabend wird wieder Handball im Knast gespielt. Für die Gäste ist Jürgen Kretschmann seit 32 Jahren am Ball. Nach 31 Niederlagen hoffen die Gastgeber auf den ersten Sieg.
Anwurf 12.30 Uhr. Das ist so fest verankert wie Heiligabend am 24. Gespielt wird auch bei Regen und Eiseskälte. Im Freien, natürlich, zweimal dreißig Minuten lang, mit fünf Feldspielern, Schiedsrichter und begrenzter Zuschauerzahl. Zum 32. Mal treffen die Parteien aufeinander, zum 32. Mal wird Prof. Jürgen Kretschmann dabei am Ball sein und, auch das hat Tradition, wieder sein altgedientes Trikot vom TV Heßler tragen.
Und wieder werden beide Mannschaften inbrünstig hoffen: dass ihre Serie hält. Oder eben endlich, endlich einmal durchbrochen wird. Denn in den letzten 31 Jahren haben stets die Gäste gewonnen. Früher meist haushoch, doch die Abstände werden kleiner. Und noch eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Nach dem Spiel wird gefeiert, danach streben die Besucher zu ihren Familien, zu Freunden, eben heim. Die Gastgeber bleiben zurück. Ausbruchssicher hinter hohen Mauern. In der Sozialtherapeutischen Anstalt, der „Sotha” an der Munckelstraße.
Heiß aufs Spiel
Zwei von zwölf Spielern, die endlich die Gästeserie knacken wollen, sind Udo B. und Sebastian G. 49 und 29 Jahre sind sie alt, beide zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, beide hoch gewachsen. Und heiß. Heiß auf Heiligabend, aufs Spiel. An einem nasskalten Dezembertag dampfen sie kleine Atemwölkchen ins Grau. Das Training läuft. Übungsleiter Klaus Rupieper bringt seine „Jungs” auf Trab. „Die haben sportlich was drauf und sind ehrgeizig”, sagt er. Das Spielfeld ist von Mauern eingefasst, mit einem Netz überspannt. Auch Bälle dürfen hier nicht raus. Der Kunststoffbelag ist schlüpfrig. Ein paar Spieler feuern Sprungwürfe ab. Mit lautem Klatschen donnern die Bälle ins Netz. Oder an die Wand.
Belag, Umfeld und kühle Temperaturen spielten der Heimmannschaft in die Hände, glaubt Kretschmann. Die Gäste sind eher Hallenspieler – und teils in die Jahre gekommen. Aber eben auch altgediente Liga-Recken mit viel Routine. Das ist bislang ihr Plus. Mittlerweile spielen schon Väter und Söhne im Knast. An Nachwuchs fürs Weihnachtsteam, das für den Polizeisportverein Gelsenkirchen antritt, mangelt es nicht. Kretschmann, heute Präsident der Bochumer Fachhochschule Georg Agricola., war bei seiner Premiere 19. Nun ist er 50, hat sich nur drei Kilo (nach oben) von seinem alten Kampfgewicht entfernt und gibt drahtig-durchtrainiert den „Regisseur. Ich spiele in der Mitte und muss unsere Werfer richtig freispielen.”
"Ein schöner Weihnachtsauftakt"
Für uns, sagt Kretschmann, „ist das Spiel ein schöner Weihnachtsauftakt. Aber wir werden auch gefordert. Das ist klar eine sportliche Veranstaltung. Aber es macht keinen Sinn, hart einzusteigen. Heiligabend”, lacht er, „ist ja das Fest des Friedens.” Selbstverständlich mit geselligem Ausklang. Nach dem Spiel ist Bescherung, überreichen die Gäste ihre gut gefüllten Weihnachtstüten und bekommen selbst kleine Geschenke. „Letztes Jahr”, sagt Kretschmann, „gab's Kalender”.
„Die Leute gehen raus in die Freiheit. Wir bleiben. Aber man weiß, dass man nicht umsonst hier ist und kann damit umgehen. Durch die Wohnlichkeit wird's leichter”, sagt Sebastian G. In den Anstaltsabteilungen wird dann noch etwas gefeiert, gemeinsam gekocht, geredet. „Sahneschnitzel, eine Riesenportion”, wird Sebastian mit seiner Kochgruppe auftischen. Um 21.30 Uhr ist Einschluss, am ersten Weihnachtstag kommen die Eltern zu Besuch in die Anstalt. „Das ist was sehr persönliches, etwas, was einen mit der Familie verbindet”, findet der 29-Jährige. „Wir versuchen sehr viel Besuch zu ermöglichen.” Das gehört für Anstaltsleiter Carsten Heim zum sozialtherapeutischen Konzept. „Das hat ähnlich entlastende Funktion wie das Sportangebot.”
Ausgleich vom Alltag
Vier-, fünfmal die Woche wird in der Sotha Sport ermöglicht. „Das ist viel wert. Sport ist Ausgleich vom Haftalltag. Und die Auseinandersetzung beim Spiel hat auch mit sozialem Umgang zu tun. Man muss Gesetzmäßigkeiten anerkennen, sammelt Mannschaftserfahrung”, sagt Udo B. „Und es ist spaßig.” So schnell wird der 49-Jährige das Anstaltsteam nicht verlassen. „Mein Haftende ist abzusehen”, sagt er. „Aber zwei-, dreimal bin ich wohl noch dabei.” Sebastian G. hofft, dass er zum letzten Mal die Gäste fordert. „Ansonsten hätte ich noch einmal mitzuspielen.”
In einigen Fällen hat es auch ein sportliches Wiedersehen in Freiheit gegeben. Manche Talente tauchten später beim Polizeisportverein als aktive Handballer auf. Für Jürgen Kretschmann ist hingegen Heiligabend die Rückkehr hinter Gefängnismauern vorgezeichnet. „Bislang waren wir treue Seelen. Hier ist unser Platz. Ich freue mich, wenn ich die Jungs hier wiedertreffe. Aber ich freue mich auch, wenn ich sie nicht mehr sehe.”