Gelsenkirchen. . In der jüngsten Armutsstudie belegt Gelsenkirchen Platz eins. Der Abstand zu anderen Städten im Revier ist deutlich. Was dahinter steckt.

Die jüngst Armutsstudie der Bertelsmann-Stiftung führt Gelsenkirchen als Spitzenreiter. Hier ist jeder vierte Einwohner auf Stütze angewiesen, in den anderen Großstädten des Reviers jeder fünfte. Nicht viel besser, aber doch ein erkennbarer Unterschied. Besonders betroffen sind dabei Kinder. Um zu ergründen, warum Gelsenkirchen mit Abstand das Ranking anführt, hat die WAZ bei Ämtern, Behörden und Verwaltungen in Gelsenkirchen und umliegenden Städten Einblick in die Statistiken genommen (siehe Info-Grafik). Was aus den Zahlen abzulesen ist.

Kinderarmut in Gelsenkirchen
Kinderarmut in Gelsenkirchen © funke grafik nrw | Miriam Fischer

„Überproportionale hohe Arbeitslosigkeit und Zuwanderung“ werden sowohl im jüngsten Armutsbericht als auch von der hiesigen Verwaltung, beispielsweise von Sozialdezernent Luidger Wolterhoff, als maßgebliche Einflussfaktoren für das schlechte Abschneiden Gelsenkirchens genannt. Wobei nicht nur Wolterhoffs Einschätzung nach auch Flüchtlinge hinzugezählt werden müssen. Der Blick auf die Zahlen bestätigt dies. „Städte mit einem geringeren Anteil an zugewanderten Menschen aus EU-Oststaaten sowie mit weniger Flüchtlingen haben – in Bezug auf ihre Einwohnerzahl - eine bessere Arbeitslosen- und SGB II-Quote.“

Luidger Wolterhoff, Sozialdezernent der Stadt Gelsenkirchen.
Luidger Wolterhoff, Sozialdezernent der Stadt Gelsenkirchen. © Foto: Martin Möller / FFS

Ein paar Beispiele. Bochum hat rund 100.000 Einwohner mehr, doch vergleichsweise deutlich weniger Flüchtlinge (6171) aufgenommen als Gelsenkirchen (6760). Und Duisburg, immerhin mit etwas über 500.000 Menschen fast doppelt so einwohnerstark wie Gelsenkirchen, hat nur etwa einem Drittel mehr Geflüchteten (10.150) eine Heimstatt gegeben wie Gelsenkirchen.

Der Zuzug von Menschen aus Rumänien und Bulgarien (EU-Ost-Zuwanderung) fällt ebenso spürbar ins Gewicht. In Herne, der kleinsten Stadt der betrachteten Kommunen, leben 1708 Menschen aus diesen beiden Ländern. Bochum kommt auf 2969 Rumänen und Bulgaren, Gelsenkirchen liegt bei 7928 und Duisburg bei 21.245.

Anteil Minderjähriger aus EU-Ost-Ländern liegt hier bei 80 Prozent

Wobei im Vergleich von Duisburg und Gelsenkirchen gesagt werden muss: Es sieht auf den ersten Blick so aus, als ob Duisburg mit seinen rund 21.000 Rumänen und Bulgaren im Vergleich zu Gelsenkirchen (rund 7900) viel schlechter dran ist, entscheidend ist aber: Der Anteil Minderjähriger, als maßgeblicher Faktor für Sozialkassen und Kinderarmut.

In Herne hält sich der Anteil erwerbsfähiger Rumänen und Bulgaren sowie Minderjähriger großzügig bewertet fast die Waage. Die Gruppe Minderjähriger aus EU-Oststaaten in Bochum macht gemessen am Anteil der erwerbsfähigen Rumänen und Bulgaren dort nur ein Viertel aus, in Duisburg schon die Hälfte, in Gelsenkirchen aber allein schon rund 80 Prozent.

Jeder Vierte ist in Gelsenkirchen auf Stütze angewiesen

Trotz über einige Jahre anhaltend guter Konjunktur ist in dieser Stadt jeder Vierte auf Stütze angewiesen. Das sind mehr als 50.000 Menschen (siehe Haupttext). Das geht aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor. In keiner anderen Stadt in Deutschland ist die Armut so hoch wie hier.

Nachbarstädte wie Essen, Dortmund, Duisburg und Herne schneiden kaum besser abschneiden – dort trifft Armut jeden Fünften. Der Erhebung von Bertelsmann liegt der Anteil Menschen zugrunde, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) beziehen, hier beträgt die Quote 24,8 Prozent.

Was bedeutet das? Zuwanderer kommen meist aus bildungsfernen Schichten, selbstständiger Broterwerb aufgrund vorhandener Qualifikation (Ausbildung/Studium) ist eher die Ausnahme als die Regel. Das heißt, diese Menschen bekommen Hartz IV. Und weil sie zumeist kinderreich sind, treibt das noch tiefere Löcher in die Kassen und im Gegenzug die Quoten derer, die von Stütze und letztlich damit in Armut leben, spürbar hoch. Nicht viel anders sieht es bei Flüchtlingen aus. Hier springen die Kommunen in die Bresche, um ihnen ein Leben am gesetzlichen Existenzminimum zu ermöglichen. Denn bis ihr Status geklärt ist, dürfen sie in der Regel keine Arbeit aufnehmen.

Der Anteil der Leistungsbezieher aus EU-Ostländern und der Flüchtlinge ist doppelt so hoch in Gelsenkirchen

Zuwanderer aus EU-Ost und Flüchtlinge sind also sehr wohl verstärkende Faktoren. Denn wenn man sie aus der Gruppe der erwerbsfähigen Leistungsbezieher - in Gelsenkirchen 35.028 und 50.535 in Duisburg - herausrechnet und zugrunde legt, dass der Großteil Geflüchteter theoretisch alt genug ist, sich selbst zu versorgen, so wird die prekäre Lage Gelsenkirchens im Vergleich zu einer doppelt so großen Stadt wie Duisburg noch deutlicher. Ihr Anteil an erwerbsfähigen Leistungsbeziehern beträgt in Duisburg circa 50 Prozent, in Gelsenkirchen sind es schon rund 70 Prozent. Bochum (73 Prozent) und Herne (77 Prozent) sehen zwar auf dem Papier nicht viel besser auf, ihr Anteil an EU-Ost-Zuwanderern und Flüchtlingen liegt gemessen an der Bevölkerung aber lediglich bei jeweils 2,3 Prozent. Duisburg und Gelsenkirchen haben (fast) das Doppelte.

Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski. Er sagt im Zusammenhang mit der Armutsstudie: Das ist kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“
Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski. Er sagt im Zusammenhang mit der Armutsstudie: Das ist kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ © FFS | Olaf Ziegler

Beim Blick auf die Zahlen darf man ein Grundproblem nicht außer Acht lassen. Die allgemein hohe Arbeitslosigkeit im nach wie vor noch strukturschwachen Ruhrgebiet. Jenseits von EU-Ost- und anderen Neu-Ankömmlingen treibt das die Quoten generell hoch, die der Arbeitslosen, der Leistungsbezieher, sprich der Hartz IV-Empfänger und letztlich die Armut. Zusätzliche Belastungen, wie erläutert, stellen zusätzlichen Abstand her. Das ist „kein Erkenntnisproblem“, wie es Oberbürgermeister Frank Baranowski immer wieder betont, „weil seit Jahren bekannt“, sondern ein „Umsetzungsproblem“.

Nicht zuletzt deshalb wird der Ruf aus den Revierkommunen immer lauter, die Finanzhilfen zur Abfederung des Kohleausstiegs auch und insbesondere ins Ruhrgebiet fließen zu lassen.