Gelsenkirchen.. Ihr Berufsziel war Hanife Derici-Ayas früh klar. Die junge Gelsenkirchenerin stieß bei der Bogestra 1980 als Fahrerin in eine Männerdomäne vor.
„Ach der alte Standardwagen, der GT6, das Schätzchen“ – Hanife Derici-Ayas hat sich den Sitzpassend eingestellt, blickt über das übersichtliche Bedienfeld des nostalgischen Gelenkwagens hinaus ins Straßenbahndepot der Bogestra und lacht vergnügt. „Den könnt’ ich noch fahren, mir juckt es in den Fingern“.
Tram pur steht da in der Halle an der Hauptstraße, mit immerhin 33,4 Tonnen Eigengewicht auf den stählernen Radreifen. Das Licht flackert im Führerhaus auf. „Ach, das geht ja nur an, wenn die Tür aufgeht. Das hatte ich schon vergessen.“ Als Partyzug ist der Triebwagen Nummer 48, Baujahr 1969, für das Verkehrsunternehmen noch immer unterwegs. „Den bin ich selbst gefahren“, sagt die 61-Jährige. „Die 40er Modelle, das waren die schnellen, die hatten einen stärkeren Motor.“ Auf einem GT6 hat die Schalkerin das Straßenbahnfahren gelernt. 1980 war das. Sie war die erste Frau im Steuerstand bei der Bogestra. Und die erste Türkin, die eine Tram fuhr.
Seit 41 Jahren ist bei der Bogestra im Dienst
Hunderttausende Kilometer durch Bochum und Gelsenkirchen, auf der 1 und der 2, die längst die Linien 302 und die 301 sind, hat Derici-Ayas hinter sich, wenn sie sich heute verabschiedet. Seit 41 Jahren ist sie bei der Bogestra im Dienst, 39 Jahre davon auf der Schiene, ein Vierteljahrhundert davon auf der Schicht von 16 bis 1.30 Uhr, die letzten Jahre in der Variobahn. Es ist die vierte Tram-Generation, die die Schalkerin in ihrem Arbeitsleben fährt. „Das ist ja unser Schmuckstück“ sagt sie. Und im Gegensatz zum GT6 mit Klimaanlage und optimaler Heizung, vor allem aber einer verstellbaren Fußbodenerhebung ausgestattet. „Für mich ist das optimal. Ich bin ja nicht groß.“
Mehrere Berichte in türkischen Zeitungen
Für Hanife Derici-Ayas „war von Anfang an klar: Ich will Straßenbahn fahren“. Als Frau, als Türkin vielleicht damals wie heute nicht der naheliegendste Berufswunsch. Doch Zweifel hatte sie nicht. „Ich wohnte in der Nähe, ich musste Geld verdienen, ich war alleinerziehend, und auch für meine Familie war das eigentlich kein Thema“, zählt die Mutter einer längst erwachsenen Tochter und eines 40 Jahre alten Sohns vier für sie triftige Gründe auf und nennt einen weiteren, der aus ihrer Sicht alles weitere erklärt: „Ich bin in Istanbul geboren.“ Eben europäisch beeinflusst, großstädtisch geprägt.
Klar, sagt sie im Rückblick, „das war schon eine Männerwelt“, in der man sich als Frau behaupten musste, aber ein großes Problem hatte sie damit nicht. Im Gegenteil. Anerkennung sei oft spürbar gewesen: „Meine Landsleute haben das verehrt, die waren stolz. Das habe ich immer wieder gesagt bekommen und auch gespürt.“ In türkischen Zeitungen wurde über Hanife Derici-Ayas berichtet. Und auch in deutschen Gazetten, beispielsweise als sie 1982 vom damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens in Bonn mit einer Delegation der Verkehrswacht empfangen wurde. Die junge Hanife hatte damals für die Verkehrswacht den Lehr-Film „Kinder haben keine Bremse“ in ihre Muttersprache übersetzt.
Als Schalke-Fan auch Sporteinsätze gefahren
Als Zehnjährige kam Hanife Derici-Ayas mit den Eltern nach Deutschland. In Istanbul lebt noch der Großteil der Verwandtschaft. „Ich selbst“, sagt sie „bin stolz, Ruhrpottlerin zu sein und werde das Seniorendasein hier mit allem Zipp und Zapp genießen.“ Schalke-Fan ist sie natürlich auch. Bei Heimspielen ist sie immer gerne die „Sporteinsätze gefahren. Ich kenne alle Fan-Lieder.“ Proppevolle Variobahnen, hüpfende Fans – das kann sie nicht schocken. „Selbstsicherer und selbstbewusster“, sagt sie, sei sie allerdings erst mit den Jahren bei der Bogestra geworden. „Allein im Spätdienst bei Kunden ohne Fahrschein oder Betrunkenen, die eingeschlafen sind, da ist auch schon mal resolutes Auftreten angesagt. Das habe ich gelernt.“
Was aus ihrer Sicht auch immer hilft? Ein Lächeln, Charme, ein freundliches Wort, eine nette Begrüßung,. Und zeitige Information. „Wenn man den Fahrgästen erklärt, warum es gerade auf der Strecke nicht weitergeht und um Verständnis bittet, dann sind die in der Regel auch geduldig.“
Bogestra-Uniform mit rotem Halstuch
Montag hatte Hanife Derici-Ayas ihren letzten aktiven Tag als Fahrerin. Rock, dunkle Strumpfhose, die nachtblaue Weste, das Namensschild, eben ihre Bogestra-Uniform mit dem roten Halstuch hat sie nochmal angezogen, zieht perfekt geschminkt mit strahlendem Lächeln im Gesicht durchs Depot, ihren kleinen Gepäcktrolley im Schlepp. Wechselgeld abgeben, den Dienstausweis auch, das steht ihr noch bevor. Der Kreis schließt sich so langsam. Mittwoch wird Ausstand gefeiert, „mit türkischer Hauptspeise und deutschem Nachtisch“. Danach geht’s in die Ruhephase der Altersteilzeit. Thailand, Türkei und Hamburg stehen für 2019 auf der Liste der Reiseziele.
„Ich habe ein überschäumendes Gefühl“, sagt die 61-Jährige. Langsam überwiegt die pure Freude. „Aber es reichte auch“, findet sie, zumal der Berufsalltag fordernder wurde. „Der Verkehr hat stark zugenommen“, viele Autofahrer seien „egoistischer geworden.“ Adieu wird sie noch längs der Strecken sagen: „An den Endstellen bin ich bekannt, auch bei vielen türkischen Händlern. Dort werde ich mich noch extra verabschieden“. Und mit der Bahn vorfahren. Nur nicht mehr an der Zugspitze. „Ich liebe das Hin- und Herfahren.“
>>> Frauenanteil liegt bei 18 Prozent
Die Bogestra betreibt mit 144 Schienenfahrzeugen neun Bahnlinien und 228 Bussen insgesamt 69 Buslinien. In Fahrdienst, Werkstätten, Service und Verwaltung hat der Verkehrsdienstleister aktuell gut 2200 Beschäftigte. Der Frauenanteil liegt bei 18 Prozent.
Im Oktober 2018 erhielt die Bogestra das Prädikat „Total E-Quality“. Bundesweit werden damit Firmenausgezeichnet, die Chancengleichheit fördern.