Gelsenkirchen. . 1919 wurde in Gelsenkirchen die Volkshochschule gegründet. Mit sehr gemischtem Angebot, vom „Mietrecht für Laien“ bis zur „Chemie in der Küche“.
2019 wird ein besonderes Jahr für die deutschen Volkshochschulen: Viele von ihnen feiern in dem Jahr 100-jähriges Bestehen. Auch die Gelsenkirchener Institution, Buer folgte erst ein Jahr später. Die junge Republik mit ihrer demokratischen Mehrheit erhob die Volkshochschulen in Verfassungsrang und forderte per Erlass die Kommunen auf, Volkshochschulen zu gründen und unterstützen.
Die Volksbildung war zwar kein gänzlich neues Thema, in Dänemark reicht die Volkshochschultradition gar weit ins 19. Jahrhundert zurück. Der Drang, vor allem dem „Handarbeiter“ die Chance zu geben, besser am Leben teilzuhaben und dank Bildung zu Aufstiegschancen zu verhelfen, war auch eine Folge der Novemberrevolution in Deutschland. Es war zwar einiges erreicht, Acht-Stunden-Tag und Frauenwahlrecht etwa. Aber die Eigentumsverhältnisse waren unverändert. Wissen ist Macht – diese Überzeugung drängte die Volkshochschulbewegung nach vorn. Es war eine Zeit, in der von den 140.000 Einwohnern der jungen (seit 1903) Großstadt Gelsenkirchen im Jahr allenfalls 100 Heranwachsende die Chance hatten, das Abitur zu machen.
Die katholische Kirche war wenig begeistert
Skeptisch beäugt wurde das Volkshochschulprojekt von der katholischen Kirche. Propst Maas regte an, es sei nun Zeit, die eigene Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Man müsse „die Kirche selbst als beste Volkshochschule betrachten.“ Ein katholischer Volksbildungsverein sei zu gründen – und so geschah es, am 15. Oktober 1919, zwecks Vermittlung der katholischen Weltanschauung.
Bei der weltlichen VHS hingegen befand ein Volksbildungsausschuss darüber, wer was wen lehren soll. Mitspracherecht hatten Lehrer, Arbeitsvertreter, Hörer und Regierungsmitglieder. Die Hörer sollten sich „ihre“ Volkshochschule selbst aufbauen, nach eigenen Bedürfnissen. Unter den ersten Lehrkräften fanden sich viele Oberlehrer – damals übrigens eine respektfordernde Berufsbezeichnung.
Die VHS-Leitung übernahm der Oberbürgermeister
Am 10. November 1919 war es dann soweit: Das erste Volkshochschulsemester in Gelsenkirchen begann, mit 1116 Hörern. VHS-Leiter war Oberbürgermeister Carl von Wedelstaedt. Gestartet wurde mit Kursen zu rechtswissenschaftlichen Fragen, Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Für die Kurse wurden verschiedenste Schulräume genutzt, etwa im Oberlyzeum an der Ahstraße, der heutigen Gertrud-Bäumer-Realschule, und im Realgymnasium an der Hochstraße (heute Hauptstraße), dem heutigen Grillo-Gymnasium.
Gebühr für die Kleiderablage: 20 Pfennige
Thema der Kurse war das „Mietrecht für Laien“ ebenso wie Volkswirtschaftslehre, Einführung in die Philosophie, die „Chemie der Küche mit Versuchen“, unterrichtet von Oberlehrer Hünnes. Auch die „Hygiene der ansteckenden Krankheiten“, die „Kindergesundheit“, die „Verwertung von Nahrungsmitteln im Körper“, Schillers Dramen, klassische Musik ( vom Bochumer Kapellmeister in der Stadthalle GE erläutert als Einführung in Sinfoniekonzerte), Historisches sowie neben Rechenhilfen „Übungen zur Anwendung des richtigen Falles beim Sprechen und Schreiben, Aufsatzübungen und Interpunktion“. Was zur Beleggebühr (eine bis fünf Mark) hinzukam, war eine Gebühr für die Kleiderablage (20 Pfennige): die Mäntel durften nicht mit ins Klassenzimmer.
Entwicklung vom Ei bis zur Geburt
Auch Mathematik, Naturwissenschaften, die „Geologie der Kohle des rheinisch-westfälischen Industriegebietes“, erläutert vom Grubenbetriebsführer Spellmann, sowie ein Lichtbildvortrag zur „Entstehung der Organe und Entwicklung von Tieren und Menschen vom Ei bis zur Geburt“ kamen ins Programm.
Im zweiten Semester 1920 verdoppelte sich die Hörerzahl in Gelsenkirchen, immerhin ein Drittel der Hörerkarten kauften Frauen. Sprachkurse in Englisch, Französisch und Esperanto wurden gewünscht, angeboten – und relativ schnell wieder abgebrochen. Nach dem anfänglichen Boom brach die Zuhörerzahl bis 1925 immer stärker ein. Was wohl weniger mit fehlendem Interesse als mit der verheerenden wirtschaftlichen Lage zusammenhing. Harte Winter, Blockaden Englands, französische Ruhrbesetzung (1923 bis 1925) samt Ruhrkampf steigerten die Nachkriegsnot und damit den Hunger nach fester Nahrung. Für die Jagd nach geistigem Futter blieb wenig Energie übrig. 1925 schrieben sich nur 85 Hörer ein – erst ab 1927 stieg der Bildungshunger wieder.
Das Ziel laut Satzung: Bildung für Arbeiter aller Art
Der Paragraph 1 im Wortlaut: „Die Volkshochschule ist eine Bildungsstätte für Arbeiter jeder Art, ohne Unterschied bei Stand, Glaube oder Geschlecht. Ziel ist, die geistigen Kräfte der Handarbeiter zu heben zum Verständnis für die großen Zusammenhänge des Natur- und Weltgeschehens, für Rechte und Pflichten des einzelnen den anderen und dem Ganzen gegenüber. Es gilt, ihn zu erziehen und dadurch seine Wertschätzung für die eigene und die fremde Berufstätigkeit zu wecken.“
>>>Info: Festprogramm startet mit „Frauenwahlrecht“
Das erste Volkshochschulsemester in Gelsenkirchen begann im November 1919. Die Volkshochschule startet den Veranstaltungsreigen zum 100-Jährigen am 10. Januar.
Dann eröffnet im Bildungszentrum eine Ausstellung der Ebert-Stiftung zu „100 Jahre Frauenwahlrecht“ mit umfangreichem Gelsenkirchener Begleitprogramm. Nur für Frauen ist in dem Rahmen auch für den 15. Februar ein „Barcamp“ geplant. Die WAZ-Redaktion wird die VHS durchs Jubiläumsjahr begleiten.