Gelsenkirchen. . Michael Axinger, Leiter der Feuewehr Gelsenkirchen, spricht im WAZ-Sommerinterview über die Herausforderungen der Zukunft.
Die Feuerwehr Gelsenkirchen verzeichnet wie andere auch stetig steigende Einsatzzahlen – 2017 eilten die Retter hier mehr als 41 000 Mal Menschen zu Hilfe. Im WAZ-Sommergespräch spricht der leitende Branddirektor Michael Axinger über Projekte, die die Arbeit der Einsatzkräfte erleichtern sollen. Der Ansatz: mehr Digitalisierung.
Herr Axinger, wie will die Feuerwehr den wachsenden Einsatzzahlen künftig begegnen?
Michael Axinger: Wir treiben gerade mehrere Projekte zur Effizienzsteigerung an. Dabei setzen wir stark auf die Digitalisierung von Arbeitsprozessen bei der technischen Hilfe, beim Brandschutz und beim Rettungsdienst, der gut 90 Prozent unserer täglichen Arbeit ausmacht.
Michael Axinger zeigt das neue Einsatz-Tablet der Feuerwehr – und wie es funktioniert. Foto: Olaf Ziegler Das digitale Patientenprotokoll
Welche Vorhaben sind das?
Wir führen beispielsweise ein digitales Patientenprotokoll ein und nutzen dafür moderne Tablets. Dazu muss man wissen, dass man bei der Einführung der Dokumentation mit jährlich 7000 Rettungstransporten gerechnet hat, heute sind es aber bis zu 50 000 Vorgänge, die schriftlich bearbeitet werden.
Worin liegen die Vorteile?
Das System ist so ausgelegt, dass es die Stammdaten des Patienten mittels einem Kartenleser erfasst – wohlgemerkt nicht seine vollständige Krankenhistorie. Die Situation nach einem Verkehrsunfall beispielsweise, erste Diagnosen des Notarztes sowie grundsätzliche Vitalfunktionen wie Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung gelangen dann per Datenfax zum Krankenhaus, noch bevor die Feuerwehr dort eintrifft.
Tag und Nacht im Einsatz – bei jedem Wetter
Der Schriftverkehr entfällt also?
Richtig. Das spart viel Zeit und Papier. Dabei muss man bedenken, dass wir Tag und Nacht im Einsatz sind, ebenso bei jedem Wetter. Das Gerät ist sehr robust und geschützt, Handschriftliche Protokolle werden etwa bei strömendem Regen nicht mehr weggespült. Zudem ist es möglich, den Einsatz digital an das Leitsystem weiterzugeben, so dass der Krankentransport schnell abgerechnet werden kann. Außerdem ist das System ausbaufähig.
Das heißt konkret?
Krankenhäuser mit ihren Spezialisierungen und freien Kapazitäten sind online abrufbar, so dass wir sofort wissen, welche Klinik nah ist und in Frage kommt. Navigation ist ebenso machbar und es lässt sich über das Digitalsystem auch dafür sorgen, dass das Rettungsteam, das nach einem Einsatz wieder freie Kapazitäten hat, noch auf dem Rückweg zur Wache direkt zu einem weiteren Einsatz in seiner Nähe gerufen werden kann. Diese Funktion heißt „Rescue Track“. Auch das testen wir gerade, es erleichtert dem Disponenten in der Leitstelle die Arbeit und Koordination der Rettungskräfte. Die Rote Liste, das ist ein Arzneimittelverzeichnis, findet sich ebenso in der Datenbank. Denn zu wissen, welche Medikamente ein Patient nehmen muss, kann entscheidend sein für das weitere Vorgehen.
Gebäudepläne sind direkt abrufbar
Wann wird dieses System zum Einsatz kommen?
Sieben Rettungswagen und drei Notarzteinsatzfahrzeuge sind bereits damit ausgerüstet. Wir machen gute Erfahrungen damit. Unser Ziel ist es, in diesem Jahr alle Fahrzeuge mit diesen Tablets zu bestücken.
Welche Innovationen wollen Sie hier noch zum Standard machen?
Im Einsatz zählt jede Sekunde. Die Feuerwehr verfügt derzeit über schriftliche Informationen von gut 1000 Objekten in der Stadt – vom Theater über Schulen, Stadien bis hin zum Chemiebetrieb. Da geht es um Gebäudepläne, Ansprechpartner, die Wasserversorgung und Anschlüsse und vieles mehr. All das ist in Kladden abgelegt. Im Notfall ist so ein Ordner aber nicht immer zu Hand. Wir testen dazu seit drei Monaten ein weiteres mobiles Endgerät mit entsprechenden Datenbanken.
Zuständigkeiten können schneller geklärt werden
Welche Vorteile hat das für die Feuerwehrmänner?
Die Retter wissen schnell Bescheid darüber, über welchen Weg sie beispielsweise am besten zum Unglücksort vordringen können, welche Schutzmaßnahmen sie wegen möglicher Gefahrstoffe ergreifen müssen oder bei Sturmschäden wo private und städtische Grundstücksgrenzen verlaufen, wem welcher Baum gehört, der Stadt oder einem Bürger, wo ein Hydrant in Reichweite ist. Eine besondere Rolle spielt das System etwa bei einem Autounfall. Die Feuerwehr muss wissen, an welcher Stelle sie eine Hydraulikschere ansetzen kann, ohne Gefahr zu laufen, in eine Patrone eines Airbags zu schneiden. Eine Explosion könnte sowohl dem Verunglückten als auch den Einsatzkräften Schaden zufügen. Derartige Informationen lassen sich über den digitalen Anschluss an die Datenbank des Kraftfahrtbundesamtes und über das Kennzeichen des Fahrzeuges abgreifen.
Wann wird Gelsenkirchen über diese Tablets verfügen?
In der ersten Stufe haben wir zwei Einsatzleitwagen damit ausgerüstet, in den nächsten Jahren sollen sie auf allen Löschfahrzeugen vorhanden sein.
Steigende Einsatzzahlen, wachsende Städte, muss die Feuerwehr sich da nicht auch vergrößern?
Die Personalstruktur lässt sich nicht beliebig vergrößern. Wir können aber an Stellschrauben wie der effektiveren Verteilung der Feuerwehrkräfte drehen. So haben wir beispielsweise am St. Marienhospital in Buer zwei Rettungswagen stationiert. Das Krankenhaus hat für das Gebäude, also für die Unterbringung gesorgt, wir haben uns dort eingemietet. Das System des Rettungsdienstes wird über die Abrechnung der Fahrten mit den Krankenkassen finanziert. Bei weiter wachsenden Einsatzzahlen ist abzusehen, dass wir in Zukunft mehr Unterstützung zukaufen müssen über andere Hilfsorganisationen und Anbieter. Es wird Aufgabe der Krankenkassen sein, eine Lösung für die steigenden Einsatzzahlen zu finden.
Die Digitalisierung wirft auch Fragen auf
Ein Blick über den Tellerrand hinaus. Mit welchen Themen befasst sich die Feuerwehr?
In erster Linie laufen wir immer der Information hinterher. Die fortschreitende Digitalisierung trägt dazu bei, dass wir mit ihr unsere Effektivität steigern, weniger allerdings die Kosten. Mit Blick auf Smart Home und weitere Lebensbereiche, in die die digitale Welt Einzug hält, beschäftigen wir uns mit vielen Fragen – eine davon lautet: Wird Alexa in Zukunft den Notruf wählen, wird sie uns sagen, ob noch Menschen an Ort und Stelle sind und wie gesichert sind denn dann diese Angaben?
Die Feuerwehr hat Probleme, Nachwuchs zu finden. Wie sieht die Lage derzeit aus?
Die beiden letzten Jahrgänge waren gut. Aber das ist nicht immer so. Wir konnten im Frühjahr offene Stellen besetzen. In der Regel sind es zehn Einstellungen pro Jahr. Von in etwa 200 Bewerbern jährlich bleiben vielleicht ein zwei Dutzend übrig – sie bringen die nötigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen mit für diesen herausfordernden Beruf.
Nachwuchs wird dringend gesucht
Welche Ideen gibt es, beständiger für Nachwuchs zu sorgen?
Die Freiwillige Feuerwehr bildet unser Rückgrat. Hier haben wir zuletzt einen Zulauf von zwölf bei der Freiwilligen und von 31 bei der Jugendfeuerwehr gehabt. Viele haben so den Einstieg als professioneller Retter geschafft. Ich selbst vor 37 Jahren am 1. Juli 1981 in Dorsten, bei der Freiwilligen Feuerwehr dort engagiere ich mich noch heute.
Das allein wird aber nicht reichen.
Nein, klar. In Düsseldorf wird derzeit ein Stufenmodell getestet. Schulabgänger absolvieren dabei einen 18-monatigen Lehrgang. Er enthält praktische Einführungen in Themen wie Elektrik und Elektronik, Holz- und Metallverarbeitung sowie auch medizinische Komponenten. Schaffen die Jugendlichen am Ende die Prüfung, können sie bei der Feuerwehr eine Ausbildung anfangen. So weit sind wir in Gelsenkirchen aber nicht. Generell gilt für unseren Berufszweig: Ein Versicherungsspezialist hat generell weniger Chancen auf einen Einstieg bei der Feuerwehr wie ein Mechatroniker oder Installateur – wir brauchen Menschen mit handwerklich-technischen Fähigkeiten.