Die WAZ hat Vertreter der im Rat vertretenen Fraktionen gefragt, wie sie die ZDF-Studie bewerten, die in GE zurzeit so heftig diskutiert wird.
SPD-Fraktion
Für die stellvertretenden SPD- Fraktionsvorsitzenden, Axel Barton und Manfred Leichtweis, spiegeln die Ergebnisse der Studie nur bedingt die Lebensrealität vieler Menschen in Gelsenkirchen wider. „Im täglichen Leben der Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener zeigt sich vor allem eines: Die weitaus meisten Menschen leben gerne hier. Sie ziehen eben nicht nach München oder ins Münsterland, sondern lieben ihre Stadt und begegnen Problemen mit Tatkraft und Zusammenhalt“, so Axel Barton. „Die Folgen des Strukturwandels sind in Gelsenkirchen immer noch kräftig zu spüren“, sagt Manfred Leichtweis. Dass Gelsenkirchen schon erheblich weiter sei, als es die ZDF-Studie zeige, unterstreicht er am Beispiel der positiven Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung: „Hier haben wir heute den höchsten Stand seit 2000.“
Dass Gelsenkirchen eine Stadt mit Problemen ist, sei unbestreitbar, gibt Axel Barton zu. Dies zeige sich besonders in einer seit Jahren konstant hohen Langzeitarbeitslosigkeit. „Dieses Problem steht dann auch in direktem Zusammenhang mit Kinderarmut und Gesundheit der Betroffenen. Um diesen Menschen eine Chance zu geben, der Negativspirale zu entkommen, müssen Land und Bund die Impulse aus Gelsenkirchen zu einem Sozialen Arbeitsmarkt jetzt schnellstmöglich umsetzen.“
„Die Zuwanderung, insbesondere aus Südosteuropa, ist ein weiteres Problem“, fügt Barton an. „Hier tragen wir die Lasten für andere, stärkere Kommunen mit, denn die Menschen ziehen nicht nach München oder in den beschaulichen Breisgau, sondern nach Gelsenkirchen aufgrund günstiger Mieten und Lebenshaltungskosten.“
Dass Gelsenkirchen auch die Zukunft im Blick hat und erfolgreich die Strukturen für eine digitale und vernetzte Stadt schafft, betont Manfred Leichtweis: „Mit der Ernennung Gelsenkirchens zur digitalen Modellkommune sind wir hier Vorreiter und genießen NRW- und bundesweit ein herausragendes Standing.“ Abschließend sagt Manfred Leichtweis: „Die Menschen in Gelsenkirchen machen ihre Hausaufgaben, jetzt sind Land und Bund gefragt, die richtigen Schritte und Impulse zu setzen.“
CDU-Fraktion
„Unabhängig von der Frage, ob und in wie weit die Methodik einer Studie zu hinterfragen ist, stelle ich mir zuerst die Frage, wie hätte ich zu den Themenkomplexen geantwortet? Neben den Begriffen Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, Schulden, Schulabbrecherquote, Lebenserwartung wären mir noch Begriffe wie Potenziale, Ärmel hoch und Zusammenstehen eingefallen. Ich mag es nicht, wenn Umfragen nur dazu genutzt werden, um Jammerstimmungen einzufangen“, sagt Wolfgang Heinberg, Fraktionsvorsitzender der CDU im Stadtrat. „Wir müssen machen, anpacken, Lösungen entwickeln. Wo es klemmt, wissen wir in Gelsenkirchen. Wir haben keine Erkenntnisdefizite, sondern Lösungsdefizite.“
Kann Politik etwas tun, um gegenzusteuern? „Politik muss vor allem Ziele definieren – ruhig auch sehr ambitionierte.“ Er nennt Beispiele: „Gelsenkirchen braucht mehr Macher und muss mehr auf seine Unternehmer setzen. Gelsenkirchen muss endlich runter von den viel zu hohen Arbeitslosenzahlen.“ Hier sei ein Klima „pro Wachstum“ einerseits und andererseits eine individuelle Mentalität des „Ich will und mache auch“ gefordert. „Wir müssen wieder lernen, die eigene Zukunft stärker in die eigenen Hände zu nehmen! Gelsenkirchen braucht mehr Eigenverantwortung, mehr Eigentum, mehr Selbstbewusstsein und mehr positive Bürger- und Unternehmensbotschafter vor Ort und draußen in Deutschland.“
Satte Mehrheitsverhältnisse in politischen Gremien schafften keine positive Reibung und kein Ringen um den besten politischen Weg. „Aber daran können wir 2020 etwas ändern.“ Gelsenkirchen brauche ein Klima von Stolz, Respekt, Mut, Optimismus, Gründergeist, Selbstständigkeit und Zukunftswillen. Und er sagt – mit Anspielung auf einen Slogan der SPD: „Heimat nur mit GE zu schreiben, ist eindeutig zu wenig!“
Fraktion Die Grünen
„Natürlich sind die Ergebnisse auch die Folge eines Strukturwandels, der über Jahrzehnte von vielen Verantwortlichen in unserer Stadt nur sehr zögerlich angegangen wurde“, so Peter Tertocha, Fraktionschef der Grünen. „In dieser Situation ist es aber der falsche Weg, an allen Ecken und Enden Einsparungen vorzunehmen, die wiederum zu Lasten der Attraktivität der Stadt gehen.“
Die Grünen sähen die Studie daher auch als Ansporn, die Stadt gemeinsam mit den Bürgern attraktiver zu machen. „Dazu zählen für uns nach wie vor Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität und die stärkere Berücksichtigung von ökologischen Aspekten bei der Stadtplanung. Ebenso gilt es, die Stärken der Stadt weiter auszubauen und beispielsweise das Freizeitangebot für die Bevölkerung zu erhalten und zu erweitern.“
Dazu gehöre auch, dass in Deutschland endlich die Städte und Regionen nach Notwendigkeit und nicht nach Himmelsrichtung gefördert werden. „Nur so haben wir eine echte Chance, die Attraktivität der Stadt wieder zu steigern.“
Fraktion Die Linke
„Nein, hier lebt es sich nicht schlecht“, sagt Martin Gatzemeier, Fraktionschef der Linken. „Wir könnten mehr. Aber der letzte Platz ist nicht gerechtfertigt.“ Ihn stört, dass die Kriterien der Studie nicht klar vermittelt wurden. „Wenn man die sozialen Aspekte hinzunimmt, dann müssten München und Köln eigentlich weiter unten auf der Liste stehen. Da ist der Wohnraum nämlich zu teuer. Hier haben wir dafür zu wenig Arbeit.“
Weshalb Gelsenkirchen immer noch schlechter dasteht als andere Städte im Ruhrgebiet, will Gatzemeier nicht einleuchten. „Vielleicht liegt es auch am Namen. Ist der Ruf erst ruiniert. . .“ Vorwürfe richtet er an Land und Bund. „Die Hilfe muss von außen kommen. Was soll die Verwaltung denn machen? Die hat doch keine Kohle.“
AfD-Fraktion
„Dass Gelsenkirchen den letzten Platz im Städteranking einnimmt, kommt nicht von ungefähr“, urteilt Martin Jansen, Fraktionsvorsitzender der AfD. Nach dem Niedergang der Montanindustrie sei es verschlafen worden, einen Strukturwandel positiv zu gestalten. „Unternehmen, die sich hätten ansiedeln können, man denke da nur an Ikea, wurden vergrault.“
Ergebnis der lokalen Politik sei eine verfallene Infrastruktur an Gebäuden sowie Straßen, Wegen und Brücken. Das Bädersystem sei marode. „Dieser Niedergang der Stadt zieht natürlich gleichzeitig sozial schwächere Bevölkerungsgruppen an, was zu erheblichen Ausgaben in den Sozialhaushalten führt.“
WIN-Ratsfraktion
„Studien werden anhand gleicher, messbarer und objektiver Kriterien erstellt, nur so ist ein Vergleich möglich“, sagt Ali-Riza Akyol, WIN-Ratsfraktion. „Dann gibt es anhand dieser Kriterien ein Ranking, hier schneiden wir seit Jahren immer sehr schlecht ab. Das muss man erst einmal akzeptieren. Zweitens muss man nach Gründen suchen und drittens nach Lösungen. Bei uns läuft das anders ab. Die Stadt bemängelt erfahrungsgemäß die Vorgehensweise, die zugrundegelegten Kriterien, das Ergebnis, die Schlussfolgerung etc. und attestiert sich selbst ein sehr gutes Zeugnis. Von Selbstkritik keine Spur. So kommen wir nicht weiter.
Die Stadt kritisiert empirische, transparente Studien auf der einen Seite, lobt sich für nichtssagende Preise wie den Learning City Award der Unesco, ein Wettbewerb, an dem nur eine Stadt aus Deutschland teilgenommen hat.“